Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
die Blase ist geplatzt. Du siehst mich verblüfft an. Aber ich werde mich nicht rechtfertigen. Er ist an der Reihe, das Spiel zu beenden. Er gießt Bier in die Gläser, bietet mir eine Zigarette an, ich nehme sie und riskiere, dass mir schlecht wird, auch er nimmt eine Zigarette, wir rauchen schweigend. In Annas Gehirn kreist die Drehscheibe des Roulettes. Sie weiß nicht, auf welche Farbe sie setzen soll, auf Schwarz, auf Rot. Sie weiß nicht, wie sie ihn zurückgewinnen soll. Sie steht auf, geht zur Kommode und holt aus der unteren Schublade ein Fotoalbum mit weinrotem Ledereinband. Sie kommt zum Tisch zurück. Ihre Schritte sind schwerfällig, sie hat zu lange im Sessel gesessen, ihre Knochen sind steif. Sie führt das Bierglas zum Mund, hält es mit beiden Händen. Sie leidet an beginnender Parkinson. Und er sieht das alles. Tant mieux! Einmal ist der Boden des Fasses eben doch erreicht. Sieh mal, hier sind Fotos von damals, alsich so alt war wie du. Die hier sind aus 2. Mai, am Strand mit Nino und einer Freundin, Carmen Paţac, einer bekannten Übersetzerin, vielleicht hast du von ihr gehört. Anna scheint zu triumphieren, als der grüne Blick den fast nackten jungen Körper streichelt, der sich auf den Vierecken aus Papier räkelt wie in Spiegeln der Zeit. Er sieht mich jetzt so, wie ich aussah, als er mich hätte lieben können. Vielleicht würde diese Übereinstimmung die Ganzheit wieder herstellen, wie zwei Birnenhälften, die man versucht, zusammenzukleben. Wo habe ich das schon gehört? Ach ja, bei Liviu Izvoranu. Weißt du, dass ich im Krankenhaus Nr. 9 auch mal einen Legionär kennengelernt habe. Er war schizophren, und ich empfand eine seltsame Anziehung, obwohl ich Angst hatte, ich weiß nicht mal, ob vor dem Verrückten oder vor dem Legionär in ihm. Seine Gedanken waren schneidend scharf und präzise. Man konnte ihnen nicht widerstehen. Es war etwas Unerklärliches an ihm, ein Magnetismus, der mich von den Seminaren fernbleiben ließ, um den ganzen Tag auf der Station Nr. 5 in der Psychiatrie zu verbringen. Durch ihn hörte ich zum ersten Mal von Platons Gastmahl. Hast du es gelesen? Kennst du diese Geschichte von Aristophanes und den Androgynen? Vielleicht gehen wir in jedem Leben an unserer heiligen Hälfte vorbei, wir erkennen uns wieder, aber wir erinnern uns nicht aneinander. Und dann stellen wir uns etwas vor, nehmen an, ahnen. Es reicht, wenn jemand unserer möglichen Hälfte auch nur ähnelt, um unwiederbringlich verloren zu sein. Du hast etwas von einer alten Rasse an dir, etwas Semitisches. Vielleicht liegen unsere Ursprünge nah beieinander. Ich weiß nicht, was dich so besonders macht, dass ich dir all dieses alteZeug auftische, das mir irgendwann mal wunderbar vorkam. Ein Glück, dass mich mein Gefühl für das Lächerliche noch nicht ganz verlassen hat. Ich weiß nicht … Entschuldige, das Telefon klingelt. Hallo, ja … Der Mann blättert jeweils zwei, drei Seiten des Albums gleichzeitig um, damit ihr möglichst wenig zu zeigen bleibt. Jaja, natürlich … Wie schnell das Interesse in uns versiegt. Wie sah er mich vor dem Essen an und wie jetzt. Jaja, genau wie du mir gesagt hast. Ein paar Stunden haben ihm gereicht, um aufzuwachen und das Absurde und Nutzlose an diesem Versteckspiel zu erkennen. Gut, bis dann. Fertig. Es war meine Mutter. Sie wollte wissen, ob ich mit dem Grab vorangekommen bin. Das habe ich dir noch nicht erzählt, gestern war ich auf dem Friedhof bei Nino und meinem Vater. Ich musste mir ein paar Leute suchen, um das Steinkreuz wieder aufzurichten. Ich kann dir nicht sagen, was für eine Freude mich auf einmal durchströmte, als ich dort ankam. Es war eine Begegnung und gleichzeitig eine Versöhnung nach langer Abwesenheit. Und was für ein Tag, was für ein Herbst, alle Bäume in Gelb und Rot gehüllt, wie Zigeunerinnen, diese vor Lebendigkeit schäumenden Farben vor dem Verlöschen. Ich habe mit Nino gesprochen, wie ich es immer tue. Ich habe ihm gesagt, dass ich wie eine Wahnsinnige schreibe, dass ich richtig Angst habe, als erwarte mich ein Abgabetermin, ein Fälligkeitsdatum. Ich habe wie jedes Mal das Foto auf seinem Kreuz gestreichelt, die Sonne hatte es angewärmt und es war leicht gewölbt, mir war, als streichelte ich seine Stirn. Beim Abschied betete ich für ihn. Meine Gebete sind ein bisschen anders. Ich spreche nicht das Vaterunser oder das Gegrüßet-seist-du-Maria wie die anderen Leute,ich bete nicht um Wohlstand, um Geld … ich bete, dass Gott mir
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