Die Seele des Feuers - 10
Last dieser Neuigkeiten. Jetzt wußte der Mann, warum man ihn zusammen mit den anderen Direktoren herzitiert hatte, zu diesem Treffen, von dem sie gedacht hatten, es sei nichts weiter als ein ganz gewöhnliches Fest auf dem Anwesen. Der Herrscher kündigte seine Anwesenheit aus Sicherheitsgründen nur selten vorher an. Er war mit seiner eigenen, speziellen Garde und einem großen Gefolge von Dienern eingetroffen.
Teresas Gesicht glühte, als sie lächelnd zu Dalton aufsah, ungeduldig der kommenden Ereignisse des Abends harrend. Claudine starrte auf den Boden.
»Ladys und Gentlemen«, verkündete der Majordomus, »wenn es Euch beliebt, das Abendessen ist serviert.«
21. Kapitel
Sie breitete die Flügel aus und trug mit voller Stimme singend die düsteren Verse einer Geschichte vor, die älter war als jeder Mythos.
Vom Ort ihres Weilens, dem Reiche der Toten, Kommen Visionen von eiskalter Pracht
Sie verlangen den Preis als grimmige Boten Des verwunschenen Zaubers, der zum Dieb sie macht Es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Verlockend im Äuß‘ren, doch selten erblickt Treiben im Wind sie als glühendes Funkeln Schüren mit Zweigen der Königin Glut geschickt Andre erobern das Dunkel
Es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Sie rufen so manche und küssen zuhauf
Als trieben sie dahin auf den Wogen
Sie kommen entschlossen und beharren darauf: Ein jeder berühre sein Grab im Erdboden es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Sie ziehen zur Jagd und sammeln zum Tanze Ihren finstren Gelüsten gehen sie nach
Sie sprechen den Bann, bewirken die Trance schüren aufs neue der Königin Feuer danach es grüßen dreifach die Glocken, es rufet der Tod.
Bis er die Wasser zerteilt
und die Glocken zum dritten Mal grüßen
Bis ihm der Ruf enteilt
und das Opfer, die Seele, muß büßen
es grüßen dreifach die Glocken, und Tod trifft den Berg. Sie zaubern und tanzen
Sie wollen ihn preisen
Doch er bittet sie huldvoll
Verlangt eine Seele
Die Glocken verstummen, der Berg tötet alle Und der Berg wird allen zum Grab.
Mit einem unfaßbar lang anhaltenden Ton beschloß die junge Frau ihren berückenden Gesang. Die Gäste brachen in Beifall aus.
Es war eine altertümliche, lyrische Dichtung von Joseph Ander, die allein aus diesem Grund bereits sehr beliebt war. Früher einmal hatte Dalton in den alten Texten geblättert, um herauszufinden, was sich dem Lied an Bedeutung abgewinnen ließe, hatte jedoch nichts entdecken können, was Licht auf den eigentlichen Sinn des Textes geworfen hätte, der – da es sich um eine Anzahl verschiedener Versionen handelte – nicht immer derselbe war. Es gehörte zu jenen Liedern, die niemand recht verstand, die aber trotzdem jeder in Ehren hielt, weil es sich offenkundig um einen großen Erfolg eines der geliebten, ehrwürdigen Gründungsväter ihres Landes handelte. Der Tradition zuliebe wurde die einem nicht mehr aus dem Kopf gehende Melodie zu besonderen Anlässen vorgetragen.
Aus irgendeinem Grund konnte Dalton sich des merkwürdigen Gefühls nicht erwehren, daß der Text jetzt eine größere Bedeutung für ihn hatte als jemals zuvor. Fast schien er auf seltsame Weise beinahe schlüssig zu sein. So rasch wie dieser Eindruck sich einstellte, so schnell war das Gefühl, da er mit seinen Gedanken woanders war, auch wieder verflogen.
Die langen Ärmel der Frau schleiften über den Boden, als sie die Arme ausbreitete und sich erst vor dem Herrscher und dann noch einmal vor den applaudierenden Menschen an der Ehrentafel neben der Tafel des Herrschers verbeugte. Ein Baldachin aus Seide und Goldbrokat lief an der dahinterliegenden Wand hinauf und breitete sich dann in wallenden Falten über die beiden Ehrentafeln. Die Ecken des Baldachins wurden von übergroßen anderischen Lanzen gestützt. Das sollte den Eindruck erwecken, die Ehrentafeln stünden auf einer Bühne – was, vermutete Dalton, in gewisser Weise sogar zutraf.
Die Sängerin verneigte sich vor den Speisenden an den langen Tischreihen parallel zu den beiden Seiten des Speisesaales. Ihre Ärmel waren mit den gescheckten Federn der Schnee-Eule besetzt, so daß sie, sobald sie die Arme ausbreitete, sich in eine beflügelte Frau zu verwandeln schien, ein Wesen aus einer jener altertümlichen Geschichten, die sie vorgetragen hatte.
Stein, auf der anderen Seite des Ministers und seiner Frau, applaudierte teilnahmslos; zweifellos stellte er sich die Frau ohne ihr Federkleid vor. Rechts von
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