Die Seele des Feuers - 10
Huhn draußen vor dem Seelenhaus an jenem Morgen habe einen dunklen Fleck seitlich am Schnabel gehabt, unmittelbar unterhalb des Kamms. Er sagte, das Huhn, auf das der Vogelmann gezeigt hatte, habe denselben Flecken besessen.
Richard hatte den Zusammenhang erst später hergestellt. Er erklärte, das Huhn, das über der Tür des Zimmers lauerte, in dem Junis Leiche lag, habe denselben Flecken an der Seite seines Schnabels besessen. Er sagte, keines der Hühner in den drei Häusern habe einen solchen Flecken aufgewiesen.
Kahlan gab zu bedenken, daß Hühner ständig im Dreck herumpickten, zudem regne es, und der Boden sei aufgeweicht, daher habe es sich wahrscheinlich um Schmutz gehandelt. Außerdem habe vermutlich mehr als nur ein Vogel Schmutz am Schnabel. Er sei einfach abgewaschen worden, als man die Hühner durch den Regen in die Häuser getragen habe.
Die Schlammenschen waren absolut sicher, sämtliche Hühner im Dorf eingesammelt zu haben, demzufolge müsse das Huhn, das er suchte, eines der Tiere in den drei Häusern sein. Richard wußte darauf keine Antwort.
Sie fragte ihn, wieso dieses eine – von den Toten auferstandene – Huhn ihnen den ganzen Tag gefolgt sein sollte. Zu welchem Zweck? Auch darauf wußte Richard keine Antwort.
Kahlan wurde klar, daß sie keine große Hilfe gewesen war. Sie wußte, Richard neigte nicht dazu, sich in Phantasien zu flüchten. Seine Hartnäckigkeit hatte im Grunde nichts mit Dickköpfigkeit zu tun und auch nicht den Zweck, sie zu verärgern.
Sie hätte aufmerksamer zuhören sollen, mit mehr Feingefühl. Sie war seine Frau. Wenn er sich nicht auf sie verlassen konnte, auf wen dann? Kein Wunder, daß er nicht bei Laune gewesen war, sie zu lieben. Andererseits, ein Huhn…
Kahlan stieß die Tür auf und wurde von einem regennassen Windstoß empfangen. Cara war zu Bett gegangen, doch die Jäger, die das Seelenhaus bewachten, erblickten sie, kamen herbeigeeilt und scharten sich um sie. Ihre Augen starrten in ihr von der Kerze beschienenes Gesicht, das in der regengetränkten Dunkelheit zu schweben schien. Jedesmal, wenn es knisternd blitzte, nahmen ihre glänzenden Körper auf gespenstische Weise Gestalt an.
»In welche Richtung ist Richard gegangen?« erkundigte sie sich.
Die Männer kniffen stumm die Augen zusammen.
»Richard«, wiederholte sie. »Im Haus ist er nicht. Er ist vor kurzem aufgebrochen. In welche Richtung ist er gegangen?«
Einer der Männer blickte seine Gefährten nacheinander prüfend an, bevor er sprach; sie alle hatten ihm mit einem Kopfschütteln geantwortet.
»Wir haben niemanden gesehen. Es ist dunkel, trotzdem hätten wir ihn bemerkt, wenn er das Haus verlassen hätte.«
Kahlan seufzte. » Vielleicht auch nicht. Richard war früher Waldführer, die Nacht ist sein Element. Er kann sich auf dieselbe Weise unsichtbar machen wie ihr draußen im Gras.«
Die Männer quittierten diese Information, nicht im geringsten daran zweifelnd, mit einem Nicken. »Dann befindet er sich irgendwo dort draußen, aber wo, wissen wir nicht. Manchmal ist Richard mit dem Zorn wie eine Seele. Er gleicht keinem anderen Mann, den wir je zu Gesicht bekommen haben.«
Kahlan lächelte still in sich hinein. Richard war ein ungewöhnlicher Mensch – das Merkmal eines Zauberers.
Die Jäger hatten ihn vor einiger Zeit zum Pfeilschießen mitgenommen, und er hatte sie damit in Erstaunen versetzt, daß er alle ihre Pfeile zerstörte, die er abschoß. Er hatte sie alle, einen nach dem anderen, in das Zentrum der Zielscheibe gejagt, wobei jeder den jeweils vorangegangenen spaltete.
Richards Gabe hatte seine Pfeile gelenkt, auch wenn er selbst nicht daran glaubte. Er hielt es schlicht für eine Frage von Übung und Konzentration. »Das Ziel herbeirufen«, nannte er es. Er behauptete, das Ziel zu sich zu rufen, bis alles andere verschwand, und sobald er dann spürte, wie der Pfeil diesen speziellen Punkt in der Luft fand, schoß er ihn ab. Er benötigte dazu nicht mehr als die Dauer eines Lidschlags.
Als er Kahlan das Pfeilschießen beibrachte, hatte sie zugeben müssen, manchmal selbst zu spüren, was er meinte.
Einmal hatte das, was er ihr beigebracht hatte, ihr sogar das Leben gerettet.
Die große Achtung, die die Jäger vor Richard hatten, war nur zum Teil auf das Abschießen der Pfeile zurückzuführen. Es war nicht schwer, Achtung vor Richard zu haben. Wenn sie behauptete, er könne sich unsichtbar machen, dann hatten sie keinen Grund, daran zu zweifeln.
Dabei hätte
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