Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
du für immer hierbleibst, weit entfernt von deiner Heimat, deiner Familie und deinen Freunden. Denk einfach darüber nach. Du weißt jetzt, wie ich für dich empfinde. Ich verspreche dir, ich würde dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Du würdest es nicht bereuen.«
In diesem Augenblick trat zu Johannas Erleichterung einer der vielen Amsterdamer Nachtwächter aus dem Schatten eines Alleebaumes, wo er sich gerade erleichtert hatte. Der Mann gesellte sich zu ihnen und begleitete sie bis zur Apotheke.
Pieter schloss auf und brachte seine Cousine bis zur Treppe, die in ihr Zimmer führte. »Schlaf gut«, sagte er. »Liebe Johanna. Und vergiss nicht: Ich denke Tag und Nacht an dich.« Seine Lippen streiften ihre Wange.
In den nächsten beiden Tagen fühlte sich Johanna hin- und hergerissen. Hierbleiben! Wie oft hatte sie tatsächlich daran gedacht, wie es wohl wäre, diese wunderbare, aufregende Metropole nie mehr verlassen zu müssen. Immer am Pulsschlag der Welt zu leben, mit dieser Weite, dieser Freiheit, die sie vorher nie gekannt hatte. Und jetzt schien dies alles greifbar. War das nicht wie im Traum? Mit Pieter würde sie ihr altes Leben ganz hinter sich lassen können, etwas Neues beginnen. Ein schönes Geschäft führen, Kinder haben, jeden Sonntag am Deich promenieren. Vielleicht einen kleinen Garten hinterm Wall kaufen und dort diese herrlich bunten Tulban-Blumen pflanzen, die alle hier ganz verrückt machten. Pieter würde ihr ein guter Mann sein. Er war ein braver Kerl, nun ja, nicht so furchtbar klug, auch ein bisschen behäbig, wie es halt seinem Bauchumfang entsprach. Aber er war ehrlich, und er war ihr gut. Er ist der erste und einzige Mann, der zu mir gesagt hat, dass er mich liebt, dachte sie. Sie stellte sich Pieter vor, immer wieder, wenn sie allein und ungestört war. Dann hielt sie inne und suchte nach Gefühlen. Doch da war nichts. Nichts außer verwandtschaftlicher Zuneigung, Freundschaft, Kameradschaft. Sie rief sich sein Gesicht vor Augen, seine Gestalt, die Art, wie er redete und ging. Versuchte sich vorzustellen, dass er sie küsste, sie berührte. Es ging nicht.
Schramm fiel ihr ein. Eigentlich war sie immer noch mit ihm verlobt – er hatte ihr die Verbindung nie offiziell aufgekündigt. Er hatte einfach gar nichts gesagt und sich nicht mehr blicken lassen. Sie horchte in sich hinein. War da noch diese grenzenlose Enttäuschung, die sie damals empfunden hatte? Oder vielleicht der später in ihr wühlende Zorn über sein unsägliches Verhalten? Darüber, dass er sie behandelt hatte wie den Schmutz unter seinen Füßen? Nein, sagte sie zu sich selbst, das ist vorbei. Sie empfand nichts mehr außer Verachtung für diesen Menschen. Die unselige Nacht, in der sie mit ihm geschlafen hatte, rief beinahe etwas wie Ekel in ihr hervor. Jetzt noch, nach all der Zeit, hatte sie seinen Geruch in der Nase. Unglücklich wär ich mit ihm geworden, dachte sie, zu Tode unglücklich.
Und irgendwann konnte sie die Erkenntnis nicht mehr unterdrücken, dass sie auch mit Pieter nicht glücklich werden würde. Dann wieder schalt sie sich, einem Traum nachzujagen. Wie viele Ehen wurden denn aus Liebe geschlossen? Die meisten heirateten doch, weil ihre Familien es so wollten. Weil sie von gleichem Stand waren, weil sich Geld zu Geld gesellen wollte, weil der Bauernhof des einen neben dem des anderen lag oder die Werkstatt des Vaters einen Nachfolger brauchte, weil der Mann eine Frau nötig hatte, die im Geschäft mithalf, das Haus versorgte, Erben gebar und aufzog. Liebe kam danach, wenn überhaupt. Konnte man vom Leben denn mehr erwarten?
Wenn ich die Thea frage, dann schon, dachte sie. Und ihre Eltern? Hatte nicht ihre Mutter aus Liebe zu ihrem Vater alles verlassen und war mit ihm nach Bamberg gegangen? War es unrecht, war es zu viel verlangt, wenn sie sich eine solche Zweisamkeit auch wünschte, irgendwann einmal? Johanna spürte die Sehnsucht von ihrem Kopf und Körper Besitz ergreifen wie ein süßes Gift. Nein, sie wollte Pieter nicht heiraten.
Und nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, wurde ihr auch klar, was das bedeutete: Ihre Zeit in Amsterdam war zu Ende. Wenn sie den Antrag ihres Cousins ablehnte, konnte sie nicht länger bleiben. Sie würde zurückkehren. Nach Bamberg. In die Mohrenapotheke, die Offizin mit dem alten staubigen Krokodil, den Garten mit den Heilkräutern. Es war ihr Zuhause, genau wie die alte Bischofsstadt am Fluss. Der Gedanke bereitete ihr zwar immer noch Unbehagen;
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