Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
er ihnen großzügig
weiter. Das Geld hatten ihm Lucie und Rabea später trotz seiner energischen Gegenwehr
zurückgezahlt. Eines Morgens dann hatte sich Lucie in einen Schleier gehüllt
und von Rabea in dem kleinen Hotel mit den Worten verabschiedet, dass sie nur
ein wenig Obst vom nahe gelegenen Markt besorgen wolle. Als Lucie nach zwei
Stunden immer noch nicht zurückgekehrt war, wurde Rabea unruhig und hatte sich
Hilfe suchend an Jules gewandt. Das war der Moment, in dem die große Stunde
ihres neuen Freundes geschlagen hatte und sich seine wahren Talente und
eigentliche Tätigkeit gezeigt hatten. Seine Brötchen als Barbier verdiente er
sich nur zur Tarnung. Jules Lafitte war
in Wirklichkeit ein mit allen Wassern gewaschener Geheimpolizist im Range eines
Obersten, sein Spezialgebiet der Waffen- und Drogenschmuggel. Jules hatte
sogleich den richtigen Verdacht: Noch immer gab es in Beirut modernen
Mädchenhandel und er vermutete, dass Lucie entführt worden war, um irgendwo im
hintersten Orient in einem Harem zu verschwinden. Die bildschöne hochgewachsene
Europäerin mit der zarten hellen Haut, den türkisblauen Augen und den langen
weizenblonden Haaren würde eine sagenhafte Summe auf dem verbotenen Markt einbringen.
Jules war überzeugt davon, dass sie jemand bei einem ihrer
zahlreichen und ausgedehnten Ausflüge durch die Stadt aufgefallen war und es
sich um eine Auftragsentführung handelte. Vermutlich hatten sie Lucie bereits
seit mehreren Tagen beobachtet und einen geeigneten Augenblick abgewartet.
Jules hatte sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber trotzdem
hatte es drei Tage gedauert, bis er die junge Frau endlich in einem Verschlag
hinter dem Haus eines Sklavenhändlers aufgespürt hatte.
Bei der Gelegenheit wurden weitere Entführte befreit, unter ihnen
eine nicht unerhebliche Anzahl Jungen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren.
Jules hatte ihr bestätigt, dass diese Jungen knapp einem Schicksal als
Lustknabe entgangen waren.
Rabea hatte später ihre Eindrücke und Jules Insiderwissen genutzt
und in einem Artikel über den weiter im Verborgenen blühenden Sklavenhandel
festgehalten. Es wurde ihr erster Achtungserfolg als Journalistin.
Rabea und Lucie erholten sich von dem überstandenen Abenteuer im
Haus von Jules Mutter. Das Viertel hatte tausend Augen und ein jeder würde nun
auf die beiden jungen deutschen Mädchen aufpassen. Beinahe zehn Wochen blieben
sie dort. Jules brachte ihnen einige, wie er es nannte, „Überlebenstricks“ bei.
Unter anderem lernten sie, was man mit einer simplen Haarnadel alles anstellen
konnte. Handschellen, einfache Tür-, Wagen- und Vorhängeschlösser zu öffnen war
nur eine Sache, man konnte sie auch als versteckte Waffe benutzen, um sie einem
Angreifer ins Auge oder Ohr zu stechen. Rabea und Lucie schauderten allein bei
dem Gedanken, jemandem mit einer Haarnadel ein Auge auszustechen, aber Jules
erwies sich ihnen gegenüber als unnachgiebiger Lehrmeister. Er ließ sie an
einer Puppe auf seiner Dachterrasse so lange üben, bis er mit dem Ergebnis
seines Trainings zufrieden war. Er erklärte ihnen, dass sie als körperlich
Unterlegene unbedingt das Überraschungsmoment nutzen mussten, und dass jemand,
dem man gerade eine Nadel ins Auge oder ins Ohr gestochen hatte, sofort von
seinem Opfer abließ. Darüber hinaus lehrte sie Jules auch einige nützliche
Karatetricks.
Jules Mutter Daria, eine immer noch ansehnliche Witwe Mitte
Fünfzig, die ebenso zu viel Schminke auflegte, wie sie zu viel schwatzte, hatte
die beiden jungen Deutschen überschwänglich in der Hoffnung aufgenommen, dass
vielleicht endlich eine Schwiegertochter in Sicht wäre, auch wenn sie blond
oder rothaarig oder deutsch oder beides war... Immerhin hatte ihr Sohn schon
die dreißig überschnitten. Ihr Jules sah sehr gut aus und war beruflich ziemlich
erfolgreich. Jede Frau konnte sich glücklich schätzen, ihn zu bekommen, meinte seine
Mutter. Für sie stand fest, es war an der Zeit, dass ihr einziger Sohn heiratete
und eine Familie gründete und sie betrieb diesen Plan mit schier
unerschöpflicher Energie. Nichts wünschte sie sich sehnlicher als endlich ein
Enkelkind - außer vielleicht zwei Enkelkindern. Was Jules Mutter nicht wusste
und nicht einmal glauben würde, wenn der Iman ihrer Moschee und sämtliche
Einwohner Beiruts es ihr schriftlich bestätigten, war, dass Jules Lafitte , ihr einziger Sohn und vergötterter Augapfel, homosexuell war.
Jules verbarg es derart geschickt, dass
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