Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
- immer wieder beteuernd, dass es auf
Erden keinen herrlicheren Duft gäbe als der ihres Haares. Den Duft des
Paradieses hatte er es genannt.
Einmal, bei einem Auftrag in Afghanistan vor ungefähr zwei Jahren,
war sie drauf und dran gewesen, es sich abzuschneiden. Wegen der strengen
religiösen Vorschriften der Taliban durfte eine Frau keine Haare zeigen, nicht
einmal eine Strähne, so dass Rabea jeden Morgen beinahe zehn Minuten damit
vergeudete, ihre Haare sorgfältig unter der Burka, dem traditionellen
afghanischen Gewand, das die Frau von Kopf bis Fuß verhüllte, zu bannen. Der
ewige Kampf mit dem mobilen Frauenkerker, wie sie ihn bei sich getauft hatte, hatte
sie schließlich so genervt, dass sie kurzerhand eine Art Friseur ausfindig
gemacht hatte, um sich endlich einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt zuzulegen.
Sie saß bereits auf dem improvisierten Friseurstuhl eines alten Barbiers und
beobachtete ihn im beinahe blinden Spiegel dabei, wie er mit verzückt zahnlosem
Lächeln den armdicken Zopf in seiner Hand befingerte, als sie mit einem Mal Panik
überfiel. Plötzlich erschien es ihr wie ein Frevel, sich von ihrem Haar zu
trennen, als würde sie nicht nur ihre Haare abschneiden, sondern damit auch
ihre somatische Verbindung zu Lukas durchtrennen, als wäre ihr Haar das
lebendige Bindeglied zwischen ihr und ihm, eine Lebensader, durch die das
Herzblut ihrer Liebe floss. Sie war von dem wackeligen Stuhl aufgesprungen und
geflohen, als wäre der Teufel hinter ihr her, einen völlig entgeisterten
Barbier hinter sich lassend.
Mit einer brüsken Bewegung schleuderte sie den Zopf samt dieser
Erinnerung auf ihren Rücken und begann ihre Reisetasche auszupacken.
Inzwischen machte sich Lucie beim Abräumen des Frühstücksgeschirrs
Gedanken über ihren Bruder Lukas. Wie er wohl die nächsten Wochen mit Rabea
unter einem Dach überstehen würde? Dass es nicht ohne die eine oder andere
Blessur abgehen würde und dies im wahrsten Sinne des Wortes, bewies bereits die
dicke Beule auf seiner Stirn. Zu spät meldete sich in Lucie der leise Zweifel, ob
es tatsächlich eine so gute Idee gewesen war, Rabea spontan in die gemeinsame
Wohnung einzuladen. Lucie kannte ihren Bruder. Er war ihr Zwilling, sie konnte seine
beruhigende Präsens spüren, selbst wenn sie hunderte von Kilometern voneinander
getrennt waren, und seine Gefühle nachempfinden. Zwar nicht mehr so gut wie vor
ein paar Jahren, als er sich noch nicht so fest in seinen Glauben eingeschlossen
hatte, aber stark genug, um zu wissen, dass die unerwartete Begegnung mit Rabea
ihn weit mehr aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, als sie je vermutet hätte.
Es behagte ihr nicht. Lukas arbeitete an seiner Dissertation und er benötigte
dazu absolute Ruhe und seine gesamte Konzentration.Jedoch, aus eigener
Erfahrung, gewachsen aus mehr als zwanzig Jahren Freundschaft mit Rabea, wusste
Lucie, dass niemand mehr Durcheinander anrichten konnte als Rabea. Sie war die
Antipode jeglicher Ruhe und Konzentration. Lucie hatte das Thema Lukas vor
Rabeas Besuch bei ihrem letzten Telefonat vorsichtig angesprochen, jedoch hatte
ihr Rabea sofort das Wort abgeschnitten und glaubhaft versichert, dass sie
momentan ganz andere Sorgen hätte als eine vergangene Jugendliebe. Das Thema
hätte sie vor sechs Jahren abgehakt. Lucie kannte nun Rabeas „andere Sorgen“,
trotzdem hatten ihre feinen Antennen heute etwas aufgefangen und Rabea hatte es
schließlich selbst zugegeben, dass sie Lukas nach wie vor liebte. Lucie
befürchtete nun, dass sie ihrem Bruder hübsch etwas eingebrockt hatte. Sie seufzte
aus tiefstem Herzen.
„Hey Schwesterchen, was machst du denn für ein Gesicht?“
Unvermittelt war das Objekt ihrer Gedanken neben ihr aufgetaucht. Zu der Beule
auf der Stirn hatte sich nun ein Pflaster am Kinn gesellt, auf dem sich mittig
ein Blutfleck ausbreitete.
„Oje, Brüderchen, was hast du jetzt wieder angestellt?“ Lucie
zwickte ihn in die Wange, wie sie es gerne tat. Die, die sie liebte, berührte
sie gerne, umarmte sie, suchte so oft es ging den körperlichen Kontakt. Das
Pflaster am Kinn erklärte zumindest sein lautes „Mist“ von vorhin. Mit dem
Zeigefinger tastete Lukas vorsichtig danach. „Zu dumm, es will einfach nicht
aufhören zu bluten.“
Lucie hatte zwischenzeitlich einen Eiswürfel aus dem Gefrierfach
geholt. Sie tippte ihrem Bruder auf die Schulter, damit er sich umdrehte, zog
das Pflaster ruckartig von seinem Kinn und drückte sofort den Eiswürfel
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