Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
nicht einmal Lucie den geringsten
Verdacht gehabt hatte, obwohl Jules der erste Orientale schien, der sich nicht
so richtig für sie interessierte. Natürlich machte er ihr galant den Hof, aber
er schien eine unsichtbare Grenze dabei einzuhalten. Nur Rabea, mit dem feinen
Gespür der Außenseiterin für einen Außenseiter, hatte bald nach ihrer ersten
Begegnung bereits die leise Vermutung gehegt. Später, als die beiden durch
Lucies Entführung und der damit verbundenen, gemeinsam verbrachten Tage
vertrauter miteinander geworden waren, hatte sie es gewagt, Jules vorsichtig
darüber auszuhorchen und er hatte ihr schließlich sein Dilemma gestanden. Seit
fünfzehn Jahren lebte er unter dem Damoklesschwert, eines Tages entlarvt zu
werden. Falls seine Veranlagung ans Licht käme, könnte dies für Jules als Muslim
und Staatsbeamten gefährliche Folgen haben. Er würde seine Arbeit und sein
Ansehen verlieren, vermutlich sogar sein Leben. Darum erwog Jules über kurz
oder lang in ein toleranteres, europäisches Land auszuwandern. Er hatte einiges
an Geld von seinem Vater, einem reichen, französischen Tuchhändler geerbt, es
geschickt angelegt und tüchtig vermehrt, so dass ihn und sein Geld wohl jedes
Land gerne willkommen heißen würde. Zudem sprach er fließend Französisch,
Englisch und Deutsch. Jules hatte Rabea und Lucie stundenlang über das Leben in
Deutschland ausgefragt. Besonders eine Region schien es ihm angetan zu haben:
„Ich habe gehört, in Deutschland gibt es ein Land im Süden mit vielen Bergen.
In der Hauptstadt findet jedes Jahr im Oktober ein berühmtes Bierfest statt.“
Lucie und Rabea hatten natürlich sofort verstanden, dass Jules damit
München und das Oktoberfest meinte.
Rabea hatte Jules - unter dem Gesichtspunkt seiner Veranlagung - die
Bundeshauptstadt Berlin ans Herz gelegt: „In Berlin ist sogar der Bürgermeister
homosexuell, Jules.“ Rabea hatte im Bezirk Pankow seit vier Jahren ihre kleine
Wohnung. In Berlin befand sich auch der Hauptsitz ihrer Redaktion. Aber Jules
hatte sich letztendlich für München entschieden. Jules hatte es also geschafft.
Außer dass er ein praktizierender Muslim war, bediente er das gängige Klischee,
dass ein Friseur schwul sein musste. Laut Lucie schien ihm die aufregende und
gefährliche Tätigkeit, der er in seiner Heimat nachgegangen war, nicht im
Geringsten zu fehlen. Wie ein Chamäleon hatte er sich seinem neuen Leben und
der neuen Umgebung bestens angepasst.
Rabea streifte das schlechte Gewissen, weil sie sich bei Jules so
lange nicht gemeldet hatte und nahm sich fest vor, ihn so bald wie möglich
anzurufen.
„Übrigens“, meinte Lucie kichernd. „Weißt du, wie er seinen
Friseursalon genannt hat? Halt dich fest. Du wirst es nicht glauben. Ich habe
mir vor Lachen beinahe ein paar Rippen angeknackst: Der Bayer von Sevilla .“
„Ist nicht wahr, passt aber zu unserem Sprachgenie“, gluckste
Rabea. Soviel wie an diesem Morgen hatte sie in den letzten Monaten zusammen nicht
gelacht. Noch am Morgen im Flugzeug hatte sie ihre Stirn an die kühle
Fensterscheibe der Innenkabine gepresst und überlegt, ob sie sich nach den
Erlebnissen in Bagdad je wieder unbeschwert fühlen könnte. Nun reichte schon
ein einziger Morgen mit Lucie, um einige der fahlen Gespenster in ihrem Kopf zusammenschrumpfen
zu lassen.
Unvermittelt klang aus dem Badezimmer ein genervt klingendes
„Mist“ herüber. Offensichtlich verlief Lukas’ Rasur nicht ganz nach Plan. Lucie
und Rabea prusteten erneut los und das letzte Stück Spannung in der Küche löste
sich zusammen mit Lukas Rasierschaum auf.
Immer noch kichernd stand Rabea auf. Sie schlenderte zur
Küchentheke, um sich kritisch im blitzenden Edelstahltoaster zu mustern. Sie
sah furchtbar aus. Heute Morgen hatte sie sich extra ihre Wimpern dunkel
getuscht, doch nun war die Tusche Tränen verschmiert. Lucie meinte nicht gerade
zimperlich: „Weißt du, wie du aussiehst mit deiner blassen Haut und der
verschmierten Tusche? Wie jene mystische schwarze Krähe, die zwischen den
Welten auf die Seelen der Untoten wartet.“
„Vielen Dank dafür, Freundin . Sonst noch was Nettes?“,
erwiderte Rabea spitz und schnitt Lucie eine Grimasse.
„Immer zu Diensten“, entgegnete Lucie mit einem perfekten
Kratzfuß, der jedem blasierten Adeligen aus dem 18. Jahrhundert zur Ehre
gereicht hätte, Resultat jahrelangen Ballettdrills.
„Apropos, Seele zwischen den Welten. Träumt Lukas immer noch von
dieser gefolterten Frau?“ Da
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