Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
zusammen. Sie wurde ganz blass. „Vielleicht ist die alte Dame mit
ihrem Hund raus gegangen, überfallen und ausgeraubt worden und liegt jetzt
verletzt oder tot auf der Straße und der Hund ist ihnen entwischt, als sie ihm
das Halsband wegnehmen wollten. Wir müssen sofort los und sie suchen.“
Rabea und Lukas tauschten einen beredten Blick. Beide kannten sie
Lucies morbide Neigung, immer und überall sofort das Schlimmste anzunehmen.
„Ach
komm, Lucie. Du hast einfach zu viele Hollywood-Schinken gesehen. Wenn etwas
passiert wäre, würde der Hund nicht hier oben an der Tür kratzen“, erwiderte
Rabea lächelnd und tätschelte ihr beruhigend den Rücken. „Bestimmt gibt es eine
harmlose Erklärung. Wahrscheinlich hat die vertrocknete Chaneltussi sich heute
zu viel Vino Montebello di Valleverde gegönnt und
schläft ihren seligen Rausch aus. Sie wird in
ihrem Bett oder auf der Couch liegen und sich einen abschnarchen. Am besten,
wir behalten das Hundchen bei uns. Dann kann sie sich aber auf etwas gefasst
machen, einfach ihren Hund draußen zu vergessen“, schimpfte Rabea und kraulte
dem vermeintlichen Opfer zärtlich den kleinen Kopf. Der Hund reckte sich ihr
bereits zutraulich entgegen. Rabea hatte eine neue Freundin.
„Kommt ihr zwei, gehen wir ins Bett, in spätestens drei Stunden
müssen wir wieder raus.“ Rabea und Lucie hatte bereits ihr Schlafzimmer erreicht,
als ihnen auffiel, dass Lukas ihnen nicht gefolgt war. Er verharrte unschlüssig
vor der Türe der Contessa.
„Lukas, was ist los, hast du doch etwas gehört? Kommt jemand?“,
rief Rabea fragend, während sie durch den langen Wohnungsflur zurück auf ihn zuging.
„Ich weiß nicht.“ Lukas schüttelte den Kopf. „Ich habe so ein
komisches Gefühl. Vielleicht ist doch etwas passiert und wir sollten besser
nachsehen.“
Erst am Morgen hatte er ein ähnlich merkwürdiges Gefühl verspürt
und hatte ihm keine weitere Beachtung geschenkt. Ein fataler Irrtum, wie sich
später ja herausstellte. Gerade hatte sich seine innere Stimme erneut gemeldet.
Ratlos kratzte er sich am Kinn. Was sollte er tun? Die Polizei verständigen?
Mit welchem Verdacht? Wenn, wie Rabea meinte, sich herausstellte, dass die alte
Dame mit einem Glas zu viel nur dem Schlaf der Seeligen frönte, hätte er sich
ziemlich lächerlich gemacht und die nachbarschaftlichen Beziehungen womöglich
auf immer vergiftet. Die Gräfin war sowieso die schwierigste Mieterin im Haus.
Noch während er überlegte und mit seinen zwiespältigen Gefühlen kämpfte, klang
ein leises Klimpern an sein rechtes Ohr. Er wandte den Kopf und sah seine
Schwester Lucie, die grinsend einen Schlüsselbund hin- und herschwenkte. Lukas
warf einen schnellen Blick auf den Bund. Er kannte ihn, es war sein eigener.
Als Sohn des Hausbesitzers, der ab und an als Hausmeister einsprang, besaß er
einen Generalschlüssel für alle Wohnungen. Er hatte es völlig vergessen, aber
seine schlaue Schwester hatte sofort daran gedacht.
Trotzdem zögerte er: „Ich weiß nicht, Lucie. Ich kann doch nicht
einfach mitten in der Nacht in die Wohnung meiner Nachbarin eindringen. Was
ist, wenn sie da ist und vor Schreck anfängt zu schreien? Stell dir vor, jemand
ruft die Polizei. Wie du weißt, hatte ich heute schon das Vergnügen.“
„Na, ja. Vergnügen würde ich das nicht gerade nennen, Bruder
Lukas“, konstatierte Rabea, „aber wenn du der Meinung bist, wir sollten besser
nach der alten Schachtel sehen, dann übernehme ich das.“
Lukas musste sie entsetzt angeblickt haben, denn Rabea fühlte sich
bemüßigt, ihn zu beruhigen: „Keine Angst, ich werde diplomatisch sein.“ Nun war
es an Lukas, mit seiner Zwillingsschwester einen vielsagenden Blick zu
tauschen. Keiner der beiden setzte aus Erfahrung besonderes Vertrauen in Rabeas
diplomatische Fähigkeiten. Rabea wartete eine Antwort gar nicht erst ab,
sondern nahm Lucie den Bund ab. Der dritte Schlüssel passte und die schwere
Wohnungstüre schwang nach innen auf. Rabea hatte die kleine Hündin zuvor abgesetzt,
und sobald sich die Tür einen kleinen Spalt geöffnet hatte, zwängte sie sich
durch und verschwand in der dunklen Wohnung. Die kleinen Pfötchen mit den
langen Krallen verursachten auf dem Holzparkett ein rhythmisches Klack, Klack.
Rabea folgte dem kleinen Shih-Tzu vorsichtig und tastete vergebens nach einem
Lichtschalter neben der Tür. Eine große Hand, die zu Lukas gehörte, griff an
ihr vorbei und fand zielsicher den Schalter. Sofort wurde der gesamte Flur
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