Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
bei Nacht, kurz vor dem Einschlafen. Ich dachte, wenn mir ein Mensch helfen könnte, mir einen Reim darauf zu machen, dann wärt Ihr es.«
»Religiöse Visionen?«
Sie nickte. »Ich sehe Götter. Viele Götter. Sie bilden einen riesigen Kreis um mich. Ich kann sie nicht deutlich genug sehen, um sie zu zählen – die äußeren Reihen sind verschwommen wie in einem Nebel –, aber beim letzten Mal konnte ich mehrere Dutzend genau erkennen. Alles in allem könnten es ein paar Hundert sein.«
Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Was tun sie in deinen Visionen?«
»Sie beobachten mich. Ich habe das Gefühl, dass sie großen Anteil an mir nehmen und meine Entscheidungen genau verfolgen. Nicht, dass sie das jemals erkennen ließen, ich weiß es einfach, so sicher, wie ich meinen eigenen Namen kenne.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sprechen kein Wort. Sie bewegen sich auch nicht. Es ist, als wären es … Statuen. Auf allen Seiten. Ein Kreis von Statuen, der irgendeine spirituelle Energie kanalisiert.« Sie blinzelte. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich dachte, Ihr könntet es mir sagen.«
»Zeig sie mir«, sagte er leise.
Sie schloss kurz die Augen und beschwor genügend Macht für eine Vision. Als diese über dem Tisch Gestalt annahm, schob er die Becher beiseite.
Ein Gott nach dem anderen erschien. Große Götter. Kleine Götter. Götter aus Stein, Götter aus Holz, Götter aus Wachs, mit Federn besteckt. In ihren Visionen waren sie nie so klar hervorgetreten, aber indem sie die Bilder für Aethanus beschwor, schienen die Konturen schärfer zu werden. Sie studierte sie ebenso fasziniert wie er.
Was für eine seltsame Mischung! Sie war nie religiös gewesen und hatte zu den Göttern Gansangs immer nur Lippenbekenntnisse abgegeben. Dennoch erkannte sie, wie ungewöhnlich einige dieser Figuren nicht bloß äußerlich, sondern auch in ihrem Wesen waren. Sie glaubte zu spüren, wie verschiedene disharmonische Energien um sie herum die Luft erschütterten, und fragte sich, ob Aethanus das wohl auch wahrnahm.
Letzten Endes konnte sie fast hundert scharfe Bilder beschwören, dahinter drängten sich verschwommene Umrisse, die mit den Schatten des Raumes verschmolzen. Aethanus studierte sie eine Weile, dann stand er auf und ging um den Tisch herum. Sie schob ihren Stuhl zurück und machte ihm den Weg frei, damit er ihre Vision vollständig umrunden konnte. Dabei setzte er mehrfach seine eigene Macht ein, um einige Bereiche noch deutlicher hervorzuheben.
»Sind sie Euch bekannt?«, fragte sie.
»Einige kenne ich.« Er deutete auf eine hochgewachsene Gestalt mit einer Krone aus grünen und orangefarbenen Federn. »Das dort ist Duat, der Gott des Todes. Aus dem Dschungel von Zoav. Und der dort« – er zeigte auf eine goldene, mit Edelsteinen besetzte Figur – »sieht wie eine anchasanische Gottheit aus. Daneben steht ein skandirischer Kriegsgott. Und dieser seltsam geformte Felsen stellt Jaasa dar, einen Wassergott, der von den Wüstennomaden verehrt wird. Wirklich sehr sonderbar.«
»Sind es denn nun tatsächlich Götter oder nur … Bildnisse?«
»Nun, was du mir gerade zeigst, sind eindeutig Idole, das heißt physische Darstellungen von Göttern. Aber die Grenze zwischen den beiden kann fließend sein, Kamala. Manche Idole wurden über Jahrhunderte mit Gebeten bestürmt, und das kann dazu geführt haben, dass sie mehr sind als bloße Statuen. Andere wurden vielleicht als Fokus für Geisterbeschwörungen verwendet und können sogar die Essenz der Wesen enthalten, die einmal in ihnen wohnten. Und eine Hexe oder ein Hexer kann ein solches Bildnis in ein spirituelles Medium verwandeln, ein Fenster in andere Welten. Das ist freilich ein kostspieliges Unterfangen. Also, um deine Frage zu beantworten … ja.«
Mutlos schlang sie die Arme um sich; sie hatte auf eine einfache Antwort gehofft, aber die hatte sie nicht bekommen.
»Die Frage ist: warum? «, überlegte er laut.
»Warum sie mich beobachten?«
»Warum sie alle beieinanderstehen.«
Sie zuckte die Achseln. »Das Ende der Welt ist nahe, so wie es aussieht. Vielleicht machen sich die Götter deshalb Sorgen.«
Er schüttelte den Kopf. »Was du da siehst, sind Statuen. Auch wenn sie im Lauf der Jahrhunderte Kräfte absorbiert haben oder inzwischen von übernatürlichen Wesen bewohnt sein mögen, sie bleiben Statuen. Physikalische Objekte, die nicht an mehreren Orten gleichzeitig existieren können.« Er schaute zu ihr auf. »In einer Vision
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