Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
verführerisch. Colivar wusste, wie gefährlich es war, das Wesen direkt anzusehen, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Seine Seele gierte nach dem, wofür diese Farben standen und was er seit Jahrhunderten entbehren musste. Er hatte gedacht, er hätte es vergessen. Er hatte gedacht, es bedeute ihm nichts mehr.
Als jetzt die Wahrheit sein Blut in Wallung brachte, schämte er sich.
Die Männer in der Gruppe hätten nun schleunigst um den Felshügel Position beziehen müssen, um den Seelenfresser gebührend zu empfangen. Aber die meisten schienen wie erstarrt oder zumindest in ihren Bewegungen deutlich verlangsamt; lediglich die Heiligen Hüter agierten annähernd wie gewohnt, obwohl auch sie deutlich beeinträchtigt waren. Salvator allein wirkte wie immer. Er packte seinen Hexer, schüttelte ihn, bis er aus seiner Lethargie erwachte, und zerrte ihn dorthin, wo Gwynofars Speer aus dem Boden ragte. Colivar schloss aus der Miene des Großkönigs, dass Gwynofars dramatisches Selbstopfer ihn völlig überrascht hatte und dass er keineswegs erbaut davon war, wie sie sich ihm entzogen hatte.
»Los!«, befahl er und drehte den Hexer so, dass er zu Gwynofar schaute. Dann trat er vor, riss den Speer aus seiner steinigen Scheide und schleuderte ihn in hohem Bogen in Richtung auf seine Mutter. Aber der Speer war für einen so weiten Wurf nicht geeignet, er war nicht ausgewogen, die Spitze senkte sich zu früh, und es sah nicht so aus, als würde er über die Hügelkuppe hinauskommen.
Doch dann erfasste ihn die Macht des Hexers, stabilisierte seinen Flug und erhöhte den Bogen. Die Waffe überflog die Steine mit wenigen Zoll Abstand und landete schlitternd zu Gwynofars Füßen. Sie hob sie dankbar auf. Zwar hatte sie ihr Langschwert gezogen, doch bevor sie es einsetzen könnte, wäre der Seelenfresser schon dicht über ihr. Mit einem Speer in der Hand hätte sie bessere Aussichten.
Die wenigen Bogenschützen, die noch nicht gelähmt waren, hatten inzwischen zu beiden Seiten von Gwynofars Hügel Posten bezogen. Einige hätten sicherlich versucht, zu ihr hinaufzusteigen, aber dafür war keine Zeit mehr. Die Königin sank zu schnell herab; wenn sich ein Mann an den gefährlichen Aufstieg wagte, könnte er nicht schießen, sobald sie in Reichweite kam. Also blieben die Schützen am Fuß des Hügels, bemühten sich verzweifelt, ihr Ziel ins Auge zu fassen, und warteten, bis das Ungeheuer nahe genug heran war.
Bald umfing sie der süßliche Moschusduft des Seelenfressers, er war tausend Mal stärker als der schwache Geruch, der Colivar im Palast der Hexenkönigin aufgefallen war. Verführerisch. Unerträglich. Seine menschliche Seele wollte ihn auswürgen, während sich seine andere, dunklere Seele am liebsten darin gesuhlt hätte. Colivar warf einen Blick zu Ramirus hinüber, um zu sehen, wie er reagierte. Die Miene des anderen Magisters war grimmig. Ramirus musste offensichtlich seine ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um tatenlos zusehen zu können, wie Gwynofar sich als Köder anbot. Gewiss hatte sie ihm befohlen, sich zurückzuhalten; von Salvator allein hätte er eine solche Einschränkung niemals hingenommen. Allerdings hatte Colivar den Verdacht, dass Ramirus auf jeden Fall eingreifen würde, wenn er das Gefühl hätte, dass ihr Leben ernsthaft bedroht war. Ohne sich um die Empfindlichkeiten der Büßer zu scheren.
Eidbrecher , dachte Colivar höhnisch. Plötzlich stieg Hass in ihm auf, Hass auf Ramirus und alle anderen Magister. Aber vor allem auf Ramirus. Wie kam dieser arrogante Narr nur auf die Idee, er sei Colivar gleichgestellt! Seit Jahrhunderten schmiedete er nun schon Pläne, um Colivar zu besiegen, und seit Jahrhunderten wurden sie immer wieder vereitelt. Doch er fand sich nie damit ab. Er hörte nie auf, vom Sieg zu träumen. Wann würde der Schwachkopf es endlich lernen? Er war Colivar nicht überlegen. Er würde Colivar niemals überlegen sein.
Höchste Zeit, dass Colivar ihm das ein für allemal klarmachte.
In einem Winkel seines Gehirns wusste er, was mit ihm geschah. Doch dieser Teil hatte die Herrschaft abgegeben, und etwas Finsteres war an seine Stelle getreten. Wie Feuer brannte ihm die Wut in den Adern, als er seine Macht um sich zog, wohl wissend, wie viel Kraft und Geschick er brauchen würde, um Ramirus’ Abwehr zu durchbrechen. Er wusste auch, woher diese Wut ursprünglich kam und dass er ihr widerstehen sollte, aber er war zu schwach. Alles, was ihn bisher mit der Welt der Menschen
Weitere Kostenlose Bücher