Die Seelenpest
Erde.
»Vielleicht bin ich Ihr Schicksal«, sagte er. Seine feste Stimme wischte den Straßenlärm hinweg. »Ich sah es eben zufällig, wie diese Schurken aus dem Tor dort vorne kamen. Sie schienen mir nichts Gutes im Schilde zu führen. Seltsam, wie man so was ahnt!«
Er kam zu ihr, reichte ihr die Hand und half ihr auf die Beine. Er trug eine grell gestreifte Hose, das Haar lag offen auf den Schultern.
Margaret strich ihr Kleid glatt, es war ganz schmutzig. Das hochgesteckte Haar hing wirr in Strähnen. Ihre Haube lag am Boden. Sie bückte sich, aber der Mann war schneller und hielt sie schon in seiner Hand.
»Habe ich vorhin Schicksal gesagt?« Er lächelte. »Verzeihen Sie. Ich heiße Aron Boggis. Ich bin Reisender. Darf ich?« Er schlug den Staub aus der Haube und reichte sie ihr.
Margaret setzte sie auf, so gut es eben ging, band sie fest zu und wusste plötzlich nicht, wohin sie schauen sollte.
»Sie laufen sicher nicht alleine durch die Stadt? Oder etwa doch?«
Sie nickte.
Seine Stimme klang wie tiefe Glocken. Er hatte große, schwere, dunkle Augen. Margaret wollte etwas sagen. Ihr fiel nichts ein. Am liebsten wäre sie in irgendeinem Loch verschwunden.
»Ich bin schon fast zu Hause«, presste sie heraus. Ihre eigene Stimme kam ihr dünn und kindlich vor. Sie wurde rot und schämte sich.
Er sah sie an. »Hier, in dieser Gegend?«
»In Bucklesbury«, sagte sie.
»Ah ja!« Er überzog sie noch einmal mit einem langen, dunklen Blick. »Ich darf Sie doch bis dort begleiten…« Er ließ den Säbel elegant in den silbern beschlagenen Lederschutz gleiten, der an seinem Gürtel hing. Dann stellte er sich dicht neben sie, reichte ihr den Arm und wartete.
Margaret ergriff den Arm. Sie wankte ein wenig und bezwang sich. Der Schwindel schien ihr rätselhaft und süß. Die Leute hatten sich zerstreut, der übliche Lärm der Straße kroch zurück in ihr Bewusstsein. Ihre Beklemmung war mit einem Mal verflogen, als hätte sie sich nie gefürchtet. Der Fremde neben ihr schritt aus, sicher, wissend, väterlich beinah. Sie lächelte flüchtig. Wie kam sie eigentlich darauf, sich von einem völlig fremden Mann durch London führen zu lassen? Aber sie empfand Vertrauen, nicht einmal ferne Zweifel. Sie blickte auf den heimatlichen Stufengiebel, der ab und zu zwischen den Dächern sichtbar wurde.
»Reisender also«, erklärte er. »Ich lebe überall. Wie eine Schnecke. Ich trage mein Haus mit mir herum.«
Er sah sie von der Seite an, doch sie schaute geradeaus, als herrschte ein Verbot, den Fremden anzublicken.
»Vor vier Monaten in Barcelona, dann Paris, dann war ich in Narbonne, Beziers. Wissen Sie, wo Beziers liegt?«
Margaret hatte keine Ahnung.
»Im hellen Süden Frankreichs«, antwortete er.
»Können Sie sich vorstellen«, fuhr er fort, »wenn Sie dort leben, dass Sie nach einiger Zeit aufhören, sich zu fragen, wie das Wetter wird?«
Jetzt musste sie ihn kurz ansehen. Die Frage war zu seltsam.
»Sie wollen morgens aus dem Haus gehen«, erklärte er, »und denken nach, ob sie den Pelz nehmen, den schweren Filz oder einen leichten Mantel aus florentinischem Tuch, den man doch besser nicht voll regnen lässt, nicht wahr? Es dauert ein paar Wochen, dann hören Sie auf, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Das Wetter wird egal. Die Sonne scheint, die Wolken sind weiß und leicht, nicht wie in London…« Er hüpfte, während er lachte. Margaret zog seinen Arm ein wenig fester an sich und löste sich gleich wieder etwas.
»Und das Licht in diesen Ländern!«, rief der Fremde. »Die Häuser sind so hell wie der Himmel dort. Schauen Sie sich hier um, nur rußige Fassaden! Der liebe Gott ist diesem Lande gram. Und wissen Sie, warum?«
Er lächelte wieder. Das Lächeln tat ihr beinah weh. Er zog sachte an ihrem Arm, damit sie weiterging.
»Sie sind ganz bleich, Miss. Sorgen Sie sich nicht, ich kenne Ihren Vater«, sagte er.
Beruhigung und Angst vermischten sich in ihr. Was, wenn er mit ins Haus kam und frisch und frei erzählte, was geschehen war?
»Haben Sie mich verfolgt?«, fragte sie mutig.
»Ja, zum Glück!«, rief er.
Sie ließ sich von ihm weiterziehen. Das Elternhaus kam immer näher. Gleich hatten sie den Garten erreicht, sie sah die Pflaumenbäume.
»Verzeihen Sie, ich…«, stotterte sie und wurde feuerrot.
Sie blieben stehen.
»Wir können nicht so weitergehen. Ich bin daheim. Ich danke Ihnen sehr. Sie können sicher sein, dass ich von hier ab nicht behelligt werde.« Sie machte
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