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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Es graust mich, wenn du so was sagst.«
    »Die Liebe ist wirr, Margaret«, sagte er.
    »Wo sie doch so etwas Schönes ist!«
    »Und Schweres.«
    »Ach, du…« Sie nahm ebenfalls seine Hand und küsste sie, nur angedeutet, ihr Mund berührte nichts. Er war für einen Augenblick enttäuscht.
    »Ich muss nach Hause«, sagte sie. »Wenn Raspale merkt, dass ich zu spät komme…«
    »Du Häschen!«, rief er leise.
    »Schreib mir einen schönen Brief und gib ihn Dick, dem Sohn des Kutschers, der bei uns ein und aus geht. Ich sag ihm das Versteck. Wie geht es Clatter?«
    »Er frisst und bellt. Mit dem Laufen hat er noch Probleme. Wir sind jetzt Freunde. Er freut sich, wenn ich komme.«
    »Grüß ihn von mir! Und sag ihm, dass ich ihn gern besuchen würde, aber dass sein Lebensretter mich nicht zu ihm lässt!«
    »Es geht nicht, Margaret«, sagte Andrew. »Die anderen Jungen würden mir das nie verzeihen. Der Schlangenkeller ist tabu.«
    »Tabu für dumme Häschen, oder?«, rief sie und legte sich die Hände offen an den Kopf, wie große Löffel.
    Dann lachte sie und lief davon.
     
     
    A LS M ARGARET IN DER F ERNE den Treppengiebel des Elternhauses sah, schlichen sich Bedenken in ihr Herz. Die Angst vorm Vater. Sie war am Flussufer entlanggelaufen, bog nun nördlich in die Stadt und nahm die schmalsten, dunkelsten Gassen, die Augen überall, die Ohren scharf, die Haut gespannt. Sie zog sich den Schal bis ins Gesicht und huschte, rannte, wo sie rennen konnte. Es dämmerte. Noch in den engsten Straßen drängten sich die Leute. Träger schleppten Körbe, Säcke, Reisekoffer, Kisten. Andere schoben Karren, trugen Sänften, Kiepen, Kinder, Hühnerkörbe, wieder andere hatten nur einen Brief in der Hand und fragten nach dem Namen eines Hauses.
    Niemand beachtete Margaret wirklich, dennoch fürchtete sie, dass jemand sie entdeckte und verriet. Nicht auszudenken, was Thomas sagen oder tun würde! Sie duckte sich bei jedem Kinderschrei, bei jedem Ruf, bei jedem Pfiff, der durch die Gassen hallte. Peitschenhiebe flogen durch die Luft, Lachen polterte aus einem Fenster in den Weg, Gebell und Hammerschläge, dann Chorgesang aus einer Kirche, im offenen Portal saß eine Frau auf einem Stuhl und stöhnte, ein Mann betupfte eine Wunde an ihrem Bein. Es stank nach faulenden Kartoffeln, nach Sprossenbier, nach Essig, Jauche. Dann roch es nach gebratenem Fleisch, nach Brot und Kohl, geräucherten Makrelen, schließlich mal nach Wäsche, dann nach Farbe, nach verwestem Fisch und Sauermilch. Jedes Haus verströmte etwas Neues, Eigenes, das Margaret weitertrieb, sie hier erschreckte, dort für einen Augenblick verführen wollte. Sie lief, sie flüchtete, sie japste atemlos und ihre Lungen brannten lichterloh.
    Als sie um eine Ecke bog, da lag vor ihr etwas auf dem Boden. Fast stürzte sie, sprang gerade noch drüber weg. Es war ein Kind in Lumpen, es hielt die Arme über das Gesicht gekreuzt, um sich zu schützen. Ein Mädchen, vier, fünf Jahre alt.
    Margaret beugte sich hinunter, berührte die kleine, dürre Schulter. Zwischen den Ärmchen öffnete sich ein Sehschlitz. Margaret fuhr zurück. Das Gesicht war narbig, ein Auge blind, die Lippen zitterten. Sie hockte sich, zog die Arme des Mädchens langsam auseinander, plötzlich standen Männer neben ihr. Zu dicht.
    Sie sprang auf, da griff eine Hand an ihren Schal. Jemand stieß sie, ein anderer fing sie auf und hielt sie fest. Ein dritter Kerl riss ihr die Haube vom Kopf herunter, legte seine Hand auf ihren Mund und presste, bis es wehtat. Jetzt musste sie ersticken! Margaret zog die Beine an und trat, so fest sie konnte. Jemand fluchte. Sie trampelte, sie schrie mit zugehaltenem Mund, sie biss und spuckte um sich, riss die Arme hoch und wand sich katzenhaft.
    Das Kind am Boden war verschwunden.
    Eine Menge Leute standen in der Nähe und sahen zu, wie man sie quälte, womöglich schänden würde! Ihr Mut gefror, ihr Zorn verlor an Schärfe, als hätten Hexen sie gelähmt. Bis anderer Lärm aufkam. Etwas blitzte auf, ein Säbel fauchte durch die Luft. Dann Schreie. Die Angreifer stolperten und fielen durcheinander, rafften sich im Halblicht auf und rannten fort. Dann wieder Schreie, leiser.
    Margaret setzte sich auf den Boden, die Hände links und rechts, um sich zu stützen. Noch benommen blickte sie sich um. Da stand ein Fremder, lässig, stark, ihr Retter, in der Rechten eine Waffe, einen kurzen Säbel. Er stieß ihn mit der Spitze in die

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