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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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nickte unauffällig zu Raspale.
    »Wir sind unter uns«, sagte Thomas. »Sie können offen sprechen.«
    »Diese Jungen sind aufsässig und spekulieren über Gott«, erklärte Clifford. »Man sagt, sie untersuchen sich.«
    »Wie bitte?«
    »Sie ziehen ihre Kleider aus und zeigen sich. Man trifft sich in einer abgelegenen Gegend, The Gully, hinter Bethnal Green. Rektor Furges ahnt gar nichts davon. Die Gegend ist verrufen. Ich fürchte, wenn er es wüsste, die Buben würden sofort relegiert.«
    »Und woher wissen Sie es?«
    »Vertrauliche Verbindungen, Sir Thomas«, sagte Clifford. »Es ist meine Pflicht als Prokurator… Sie verstehen…«
    Thomas konzentrierte sich.
    »Gibt es etwas Handfestes gegen den Schüler Whisper?«, fragte er. »Irgendeinen Zeugen, der ihn mit einem dieser toten Jungen reden hörte, der gesehen hat, wie beide Briefe tauschten, ein fester Vorwurf, Präzeptor Clifford, mit dem sich vor den Richter ziehen ließe? Sie haben ja gesehen, vorgestern, wie sperrig beispielsweise dieser Julian Pinchbeck ist, Wolseys Affe. Ein Trottel, mit Verlaub.«
    »Welcher von beiden?« Clifford grinste flüchtig.
    »Habe ich mich missverständlich ausgedrückt?«
    »Nein, Sir. Verzeihen Sie bitte!«
    Thomas zögerte. Die Gedanken überschlugen sich. Seltsam, dass ausgerechnet jetzt, wo er über Johan Whispers Frechheit grübelte, auch dieser Clifford unverschämt wurde, zwar nur für einen Augenblick. Aber es reichte, danke sehr!
    »Nennen Sie es… ein Bauernopfer«, sagte Thomas plötzlich.
    »Wen meinen Sie? Den Schüler Whisper?«
    Thomas nickte fast unmerklich. Clifford war bleich geworden. Raspale lächelte versunken, spuckte aus und murmelte zuweilen unverständlich.
    »Ich denke«, sagte Clifford, »dieser Whisper ist dreist genug, auch jüngere Schüler mit in den Sumpf zu ziehen. Er verführt sie geradewegs.«
    »Denken Sie?«, fragte Thomas. »Es wäre wichtig, dass Sie es nicht bloß dächten, Herr Präzeptor, sondern Zeuge wären oder Zeugen kennten.«
    »The Gully? Niemals. Es ist dort ekelhaft und man verkleidet sich…«
    »Ich habe nicht gesagt, dass Sie sich selbst dorthin verirren müssen.«
    Clifford nickte, wischte sich die Hände ab. Thomas ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Raspale schmatzte laut.
    »Was sagst du, Raspale?« Thomas war erleichtert, ablenken zu können. Er war nicht länger sicher, wie er mit diesem Clifford handeln durfte und wie nicht. Der saubere Präzeptor hatte plötzlich Risse, wie ihm schien.
    »Bin ganz erschreckt«, sagte der Alte, »dass nun wieder tote Kinder gefunden wurden. Redet denn niemand mit ihnen? Gehen uns die eigenen Kinder nichts mehr an? Verstehen wir sie nicht? Maleachi, Maleachi… «
    »Raspale, alter Kindskopf!«, sagte Thomas und wandte sich an Clifford. »Er ist mein Hausnarr, nicht ungeschickt im Kopf. Einmal im Monat träume ich, dass ich seine Rolle spiele und er meine. Frei von Verantwortung, von allen Ämtern, nie mehr lügen, schmeicheln, loben, schmieren…«
    Clifford nickte artig.
    »Er hat ja Recht«, fuhr Thomas fort. »Die Jugend widersetzt sich. Wie Augustinus, wie die Jünger Jesu oder wie dieser deutscher Mönch, der Doktor Luther, uns verwirrt.«
    »Der uns verführt«, verbesserte Clifford sofort. Er hatte bemerkt, dass Thomas provozierte.
    »Durchaus, Monsieur«, mischte sich Raspale plötzlich ein. »Verführt zu denken: Müssen wir uns vor Gott mit Geld und Fleiß bewähren oder reicht der nackte Glaube?«
    »Raspale!«, rief Thomas. »Was ist in deinem Kopf los?«
    Der Alte stülpte die Unterlippe vor und wiegte seinen Schädel hin und her.
    »Vielleicht braucht es nichts, um ins Paradies zu kommen«, setzte der Alte hinzu, »nur Mensch zu sein. Wenn Gott so groß ist, wie wir hoffen, dann hat er auch die Größe, mir ins Herz zu sehen, egal ob ich ein Fürst bin, ein Hausnarr oder Regenwurm.«
    Clifford verzog angewidert den Mund.
    »Ich mag Regenwürmer«, bestätigte Raspale. »Ich mag Steine, Igel, Hasen, Wolken und Libellenflügel. Durch sie spricht Gott am ehesten zu uns.«
    »Verzeihung, Sir«, sagte Clifford. »Das klingt sehr lästerlich.«
    »Igel und Libellenflügel, lieber Herr Präzeptor«, antwortete Thomas schnell. »Beides sind Geschöpfe Gottes. Das ist es, was Raspale meint. Er denkt konsequent. Sie dürfen ganz beruhigt sein, in meiner Gegenwart ist jedes Wort gut aufgehoben, es wird gleichsam legitim, wenn Sie so wollen.« Er hatte Cliffords Blick erwischt, für einen Atemzug. Irgendetwas störte ihn: Wie

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