Die Seelenpest
dieser Mann so artig dasaß, zu artig. Seine Augen waren stumpf, als ob sich hinter ihnen etwas anderes bewegte als vorne im Gesicht.
»Libellenflügel!«, rief Raspale. »Weil sie durchsichtig sind und fliegen. Wie gut von Gott, sich so zu zeigen! Warum sagt man diesen Kindern nicht, dass es Libellenflügel gibt? Man kann sie nicht berühren, beinah wie Gott…«
Thomas sprang auf. Während Raspale redete, und nicht mal schlecht, war ihm die entscheidende Idee gekommen. Margaret musste eingeschlossen werden, jeder Kontakt nach außen war von heute an zu unterbinden. Nicht hier in Westminster. Und nicht bloß ein schwacher Stubenarrest daheim, sondern ein häusliches Gefängnis war erforderlich, in das kein Brief vordrang, vor allem keiner mehr nach draußen und in die Welt.
»Wie schön, Raspale«, lobte er blinzelnd und setzte sich wieder.
Der Alte schmunzelte und hatte nasse Lippen. »Wir beten uns zu Tode…«
Clifford lehnte sich neugierig vor. Auch Thomas lauschte interessiert.
Raspale hob die Hände wie zum Segen. »Man sagt, dass zwanzigtausend Rosenkränze den Diebstahl einer Kinderseele aufwiegen, wie auf dem Marktplatz, wie wenn man Rüben handelt. Da lobe ich mir die unverdorbene Natur, das Wesen der Libellenflügel. Diese Verästelungen, die ungeheuer feinen Zweige. Alles deutet darauf hin, dass diese Tiere Engel sind.«
»Unerhört!«, rief Clifford.
Thomas machte ihn mit einer Handbewegung stumm.
»Wie sind denn Engel?«, fragte der Alte unbeirrt. »Sie sind nicht immer gutmütig, keineswegs. Soldaten Gottes. In jeder Stubenfliege ist ein Engel. Ich habe nämlich festgestellt, dass auch die sommerlichen Mückenwolken, die wir tanzen sehen, Engelwolken sind. Jede tanzt ihr eigenes Lied und ist doch mit den anderen verknüpft…«
»Will er uns provozieren?«, fragte Clifford.
»Und Sie, Sir?«, rief Raspale. »Wie steht es denn um Ihr Gewissen?«
»Das reicht, Raspale!«, befahl Thomas. Und zu Clifford: »Sie müssen ihm vergeben, Herr Präzeptor, er hat zu viel Phantasie.«
»Wenn man nicht gleich einen Riegel davorschiebt, Sir Thomas! Verzeihen Sie, aber nach allem, was die Kirche lehrt… ist dieser Mann ein Verführer, mit seinen Fliegen und Libellen. Ich muss mich wundern!«
»Das ist Ihr Recht«, sagte Thomas kühl.
»Er predigt!«, stellte Clifford fest, schon etwas kleinlaut.
»Er predigt nichts.« Thomas ließ die Hand auf den Tisch fallen, draufschlagen hatte er nicht gleich wollen.
»Hören Sie gut zu, Herr Lehrer. Ich sage dies nur einmal. Wir haben nichts Geschriebenes, es gibt kein Protokoll hier, nichts geht in die Geschichte ein…« Er blickte Clifford an, bis dieser seinem Blick begegnete.
Clifford merkte offenbar, dass etwas anders war, dass er hier nur noch gehorchen konnte und dass die Freundlichkeit vorüber war.
»Zu Ihren Diensten, Sir.«
Thomas stand auf und ging zu ihm hin, lehnte sich, vertraulich tuend, ein Stück zu ihm herunter und flüsterte.
»Ich mag diesen Schüler Whisper nicht. Ist er denn fleißig?«
»Sehr.«
»Dann mag ich ihn umso weniger. Ich will ihn nicht.«
»Sie wollen ihn nicht, Sir?«
»Ich will ihn nicht, Präzeptor Clifford. Ich würde mich erkenntlich zeigen.«
»Jawohl, Sir.«
Thomas ging an seinen Platz zurück und setzte sich.
Clifford wartete einen Moment, ob noch etwas folgen würde. Dann stand er auf, verbeugte sich und dankte. Thomas blickte weg, bis er hinausgegangen war.
»Wie grauenvoll, wie blutig!«, sagte er und schielte zu Raspale, der ihm das alles sicher übel nahm. »Es hilft doch nichts, du dummer Narr! Ich muss es tun als meine väterliche Pflicht.«
20. K APITEL ,
in welchem ohne Flügelschlag geflogen wird
Andrew konnte weder gerade sitzen noch richtig essen. Er führte eine winzige Menge Brei zum Mund und nippte. Die Unterlippe brannte, als wäre der Riss darin mit Pfeffer bestreut worden, und in der Wange, bis hinunter zu den Zähnen, schmeckte er noch immer frisches Blut.
Nach dem Überfall vor der Kathedrale hatte man ihn achtlos liegen lassen. Irgendwann war er zu sich gekommen und hatte sich nach Hause zum Konvikt geschleppt.
Jetzt war es später Vormittag. Man aß gemeinsam.
Das Refektorium, der Speisesaal des Konvikts, war ein langer, fast kirchenhoher, aber schmaler Raum mit dunklen, bis dicht unter die Balkendecke holzgetäfelten Wänden. Das Tageslicht fiel durch eine Hand voll beinah blinder Fenster aus bleigefassten, runden Gläsern.
Der Saal war voll. An den drei
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