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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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geküsst, es war nicht wieder gutzumachen. Sie hatte es gewollt, nein, sie hatte es geschehen lassen, und es war schön gewesen, trotz aller Angst in diesem Augenblick, als sie vergessen hatten, wo sie sich befanden. Der Kuss stand zwischen ihr und ihrem Vater, der Kuss und ihr geküsster Mund, der nun für alle Zeit verdorben war.
    Ihr Leib verkrampfte sich. Sie hustete würgend.
    Wieso war Gott so grausam, all diese widerstrebenden Gefühle zuzulassen? Wieso gab es einen Körper, wenn er der Seele widersprach? Wo war der Gott, der sie versöhnte: die Seele mit dem Fleisch, gerade weil der Mensch der Träger jener urererbten Schuld ist? In ihrer Liebe fühlte sie ganz deutlich Gottes Nähe, und ohne Gottes Segen wäre sie nie fähig, Andrew so zu lieben, und hätte er es nie vermocht, ihr im Haus Gottes diesen Kuss zu geben, der sie verwandelt hatte und ohne Unterlass verwandelte. Sie fühlte es: das neue Leben in ihr, die ungeborene Seele tief in ihrem Schoß.
    Die Sänfte wurde abgestellt. Margaret fröstelte vor Angst. Die Hände waren nass, die Zunge klebte ihr vor Durst am Gaumen.
    Der Schlag wurde geöffnet.
    »Westminster, Miss Margaret«, sagte Boggis mit artiger Verbeugung. »Ich bitte sehr.« Er lächelte und hielt die Tür auf. Die Träger keuchten.
    Margaret stieg aus. Der Fremde reichte ihr den Arm und stützte sie.
    »Ich muss Sie um Verzeihung bitten. Wie unartig von mir, den Auftrag Ihres Vaters anzunehmen, Sie zu finden und hierher zu bringen.« Er führte sie über einen Kiesweg zum Palast. Sie nahmen die Treppe und betraten einen hohen Flur.
    Sie erkannte das Gerichtsgebäude, wohin sie schon als Kind den Vater dann und wann begleitet hatte. Durch einen anderen Eingang allerdings.
    »Darf ich einen Becher Wasser haben?«, fragte sie.
    »Sofort, sogleich. Noch ein paar Schritte. Ich bin Ihr wohlerzogener Diener.« Er lächelte wieder, auf eine Weise, die ihr nicht einmal missfiel.
    »Wo ist mein Vater?«
    »Im Hause.«
    »Er wartet wohl.«
    »Oh nein. Keineswegs. Ich entschuldige mich, wenn Sie das dachten. Er möchte Sie nicht sehen.«
    Margaret blieb wie angewurzelt stehen.
    »Er weigert sich, Sie zu empfangen«, erklärte Boggis. »Ich habe die Aufgabe, Sie hier bis auf weiteres festzuhalten.«
    Sie war zu überrascht, zu erschreckt, um sofort etwas zu sagen.
    »Es tut mir Leid.« Er machte Anstalten weiterzugehen.
    »Er will verhindern, dass ich Andrew sehe«, sagte sie.
    »Natürlich«, sagte Boggis.
    »Wie sinnlos!«
    »Weil Sie ihn lieben?«
    »Weil wir uns lieben.« Margaret triumphierte für die Dauer eines Atemzugs.
    »Sollen wir trotzdem weitergehen? Nur ein paar Schritte noch.«
    Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschrien, dass Andrew sie geküsst hatte, auf den Mund, dass alle Mühe, sie zu trennen, zwecklos war.
    »Das Unglück ist nun mal geschehen«, stellte sie fest.
    Der Fremde drehte sich kurz um und sah sie an. Weiter vorne stand ein Wachsoldat vor einer breiten Tür. Sie betraten einen weiten, hohen Raum, dessen Wände Schränke waren, dicht an dicht, in denen Akten standen, Mappen, Bündel, Folianten. Es roch nach Staub.
    »Da sind wir!«
    Boggis schloss die Tür und machte eine elegante präsentierende Bewegung um die eigene Achse.
    »Was Sie hier sehen, Madame, ist die halbe Menschenwelt, protokollierte Vergangenheit, gefrorene Zeit, wie man es nennen könnte.«
    Er ging zu einem der Schränke, zog eine Mappe heraus und löste das Band, das die Papiere fest zusammenhielt. Margaret setzte sich auf einen Stuhl.
    »Was Ihr geliebter Freund dort in der Kirche macht, das mit den Kugeln. Dieser Fall hier beispielsweise…« Er blätterte ausgiebig. »Ein Mädchen von elf Jahren, es konnte in die Zukunft sehen. Das ist nicht schlimm, aber wenn es anderen schadet und Gerüchte hinterlässt…«
    Er blätterte und las: »Wenn etwas verloren gegangen ist, sich aber noch im Haus befindet, so lässt das Kind sich die Namen der Hausbewohner mitteilen. Dann zündet es vier Kerzen an, die erste für Gott, die zweite für den Sohn, die dritte im Namen der Dreifaltigkeit und die vierte im Namen der heiligen Helena. Die Kerzen müssen gleich schwer sein und gleichzeitig angezündet werden. Dann muss man sich niederknien und zu jedem Namen eines Hausbewohners fünf Paternoster und ein Ave-Maria sprechen, dazu das Glaubensbekenntnis. Geht St. Helenas Kerze als erste aus, so ist das Vermisste noch im Haus. Meist ist das Gesinde erschreckt, weil seine Namen mit genannt wurden, und der

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