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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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randaliert, wirres Zeug gepredigt, dass Gott nicht sei, und so was dieser Tage, wo junge Menschen sich solche Worte sehr zu Herzen nehmen. Jetzt schmachtet er im Verlies. Sir Thomas, unser tapferer Ritter, hat ihn ausgequetscht. Ihr Vater will nicht reden, ein zäher und sturer Mann. Man wird zur Zange greifen, damit er ehrlich ist. Die Haut ist weich. Am Nachmittag erwarte ich Sie in meinem Zimmer. Sie werden kommen.« Damit ließ er Andrews Schulter los und ging zurück zum Lehrertisch.
    Andrew legte seinen Löffel hin. Eine Weile aß man schweigend. Search und Gregor blickten aufgeregt herüber.
    »Er ahnt was«, sagte Andrew leise. »Vorsicht, die Lehrer stehen auf!«
    Kaum hatte sich Rektor Furges erhoben, standen auch die Schüler auf, sammelten die Teller ein und trugen sie, zu Türmen aufgeschichtet, durch die Tür zur Küche.
    Man tuschelte, rempelte einander an. Es gab Tauschgeschäfte im Gewühl, alles, was man brauchen konnte: Messer tauschten den Besitzer, Feuersteine, Nägel, Kreide, Kerzen, Stockfisch, Lederstreifen, Nüsse, Salz. Viele hatten Brot versteckt, was streng verboten war.
    Jeder wischte seinen Löffel ab und band ihn fest; die Löffel waren Schülereigentum und hingen lose an einer Schnur im Mantel oder am Hosenbund. Jeder wusste, dass das Durcheinander nach jedem Essen nützlich war, also drängte man sich in den Gängen, auf den Treppen, vor den Türen, so lange, bis ein Präzeptor oder Lehrer mit der Rute kam und alle auseinander trieb.
    Andrew balancierte einen Tellerturm nach unten. Die Küche lag in einem tieferen Geschoss und war eine dampfende Hölle voller Düfte, aber auch Gerüche, die zu denken gaben. Als er wieder heraufkam, sah er vorne am Tor zum Innenhof ein Dutzend Jungen ihre Hälse recken. Auch ein paar Lehrer waren in der Nähe. Mitten in der Menge sah Andrew einen Mann, etwas erhöht, vielleicht auf einem Schemel. Es war der Fremde, der mit Clifford auf der Brücke gestanden hatte. Er hielt ein Blatt Papier hoch, wendete es hin und her, als gelte es zu zeigen, dass es damit nichts Sonderbares auf sich hatte. Er knickte das Papier, faltete es immer weiter, bis eine neue Form entstand, länglich, spitz zulaufend, ein breiter Pfeil vielleicht. Er drehte es und ließ es fallen, fing es geschickt auf.
    »Gentlemen!«, rief er. »Sie werden etwas erleben, was Sie noch nie gesehen haben!«
    Er hielt den Papierpfeil hoch, jeder starrte hin. Im nächsten Augenblick warf er das Ding hoch in die Luft. Statt in die Menge oder auf den Boden zurückzufallen, flog der rätselhafte Gegenstand über alle Köpfe hin quer durch die Halle bis vor ein offenes Fenster, wo eine Brise ihn erfasste und, als wäre er ein zweites Mal geworfen worden, erneut nach oben trug. »Es fliegt!« Man raunte es sich zu, erschreckt, ungläubig und mit bangen Blicken. Andrew fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Glieder fuhr. Ein fliegendes Papier, das nicht wie Laub vom Wind umhergewirbelt wurde, sondern seine Höhe hielt, wie ein Insekt, ein Vogel. Das Ding durchflog das Fenster, stieg in den freien Himmel und verschwand.
    Charles stand nicht weit von Andrew. Er war so weiß wie Kreide. Der Mann fing alle Blicke ein. »Kein Grund zum Fürchten, Gentlemen! Es ist kein Wunder. Die Chinesen haben es uns vorgemacht.«
    »Hört ihn, hört ihn!«, rief einer der Hilfslehrer und erntete Beifall.
    »Ich selber bin nicht wichtig«, fuhr der Fremde fort. »Wichtig ist das Land, der Glaube, unser König, die Erlösung. Werden wir erlöst? Niemand kann das sicher sagen. Nur das Papier fliegt geradewegs zu Gott, das ist die Wahrheit! Es ist ein Brief. Gott liest ihn, er liest ihn jetzt, während ich hier stehe und sich jeder doch ein bisschen ängstigt, oder nicht?« Er riss die Hände in die Höhe.
    Andrew sah, dass Gregor sich hinter einer Ecke in der Deckung hielt. Ihre Blicke trafen sich und Gregor nickte.
    Der Fremde redete. »Was ich den Herren Lehrern und Professoren zu sagen habe, ist, dass ich es vermag, die Schriften Platons und des Aristoteles aufzusagen, Wort für Wort auswendig, oder auch die Werke der Kirchenväter, ohne Verlust eines einzigen Buchstabens. Und bitte, sehen Sie…!«
    Er hob wieder beide Hände und trug an der linken eine Puppe. Die Puppe trug ein Mäntelchen, einen Hut, Degen, Stock und glänzende Stiefel an den ulkig schlenkernden Beinen.
    Jeder war erstaunt. Tuscheln. Hier und da verlegenes Lachen.
    »Verzeihung, Sir!«
    Alle drehten sich um.
    Es war der Rektor Furges, ein Mann mit

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