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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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parallelen Tischen, die sich über die Länge des Refektoriums erstreckten, saßen etwa hundertvierzig Knaben in schwarzen Mänteln mit roten Kragen und Manschetten.
    Man hörte nichts als das hundertfache Schaben der Holzlöffel. Sprechen war verboten. Am Kopf der Tafel saßen, zwei Stufen erhöht, der Rektor, die Präzeptoren und Hilfslehrer. Sie aßen saures Entenfleisch mit Gurken, es duftete danach. Die Jungen aßen Kürbisbrei, Kohlsuppe und Weizenbrot, von dem es leider stets zu wenig gab. Es war das Mittagessen, obschon erst zehn Uhr morgens. Um fünf Uhr in der Frühe fand die erste Andacht statt, dann gab es Frühstück, es folgten Bettenmachen, Kehren, Nähen, Schuheputzen und der Unterricht bis zehn.
    Andrew saß im mittleren Teil des Saals, Charles neben ihm. Search und Gregor hatten ihre Plätze ziemlich vorne, wo die Lehrer waren. Die Jungen spürten Angst. Andrew hatte erzählt, was an der Kathedrale vorgefallen war. Charles hatte ebenfalls Neuigkeiten. Er flüsterte, nach vorne schielend, die Hand am Mund.
    »Gestern Morgen, bei Gravesend in einer Höhle. Zehn Schüler, die sich an den Händen hielten, die Augen schlimm verdreht. Sie sind jämmerlich erstickt, aus freien Stücken. Es gibt wohl wieder einen Brief, in dem steht, dass hunderttausend Engel auf die Erde kommen, wie Fliegen, unsichtbar und grausam.«
    »Fliegen sind nicht unsichtbar«, zischelte Andrew und verzog den Mund vor Schmerzen.
    »Aber Engel«, entgegnete Charles. »Sie sagen, der Himmel wird ganz schwarz davon, alle werden denken, es sind Gewitterwolken. In Wahrheit schüttet Gott das Himmelsheer zur Erde. Wir sterben alle.«
    »Steht das in dem Brief?«, fragte Andrew.
    Charles nickte. »Hast du keine Angst?«
    »Nicht vor Stubenfliegen, auch wenn es Engel sind.«
    »Glaub ich dir nicht.«
    Andrew zuckte mit den Achseln und aß weiter. Der Brei schmeckte fad und klebte. Andrew blickte an Charles vorbei nach vorne, wo Clifford eben noch gesessen hatte. Er spürte die Bedrohung. Sie war nicht greifbar, aber gegenwärtig. Er beugte sich weiter vor.
    »Ich bin schon hier, Master Whisper!«
    Andrew duckte sich. Er biss die Zähne aufeinander, er konnte ihn schon übel riechen hinter sich.
    »Was hat’s denn Wichtiges gegeben, Master Summers?«
    »Sie meinen mich, Sir?« Charles tat erstaunt.
    »Ja, Sie, Charles Summers!« Clifford wurde wieder lauter.
    Charles schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, Sir.«
    »Ich habe Sie immer für einen emsigen, stillen Schüler gehalten, Charles, höflich und auf Ihren Vorteil bedacht. Darf ich Charles sagen? Nur dieses eine Mal. Ich glaubte immer, Sie gehören zu denjenigen, die schlau genug sind, sich nicht in Sachen hineinziehen zu lassen.«
    »In Sachen hineinziehen, Sir?«
    »In dunkle Sachen, Charles. In Höhlen, Keller, feuchte Gegenden, die niemand liebt.«
    »Ich besuche keine feuchten Gegenden«, sagte Charles.
    Clifford grinste. »Schön, wie Sie sich Mühe geben, es leicht und schuldlos klingen zu lassen. Auch das ist ein Talent. Unser Master Whisper, Ihr Nachbar, beherrscht es ebenfalls. Er sitzt zuweilen da, fast wie ein Engel, einen Blütenkranz im Haar wie ein Mädchen, singend auf der Sommerwiese, die Bienen summen, die Luft ist weich und milde.« Er schlug Charles plötzlich die flache Hand auf den Kopf. Der Junge fuhr erschreckt zusammen.
    »Verzeihung, Charles! Wie konnte ich? Wenn einer gerade seinen Löffel in den Mund tut. Es soll nicht wieder vorkommen. Oder? Ich will es nicht mehr tun. Ich peitsche mich zur Strafe, Master Whisper. Ha, ha.«
    Andrew drehte sich ein Stück. »Herr Präzeptor?«
    »Ach, gar nichts«, sagte Clifford und legte eine Hand auf Andrews Schulter. »Wie hast du das gemacht, Whisper? Wie hast du sie kennen gelernt, die Tochter eines Sir Thomas Morland, unseres mächtigen Unterschatzkanzlers. Denkst du nicht auch, dass diese Trauben ein Stück zu hoch im Himmel hängen? Womit hast du sie gezwungen? Du hast sie doch gezwungen? Nie hätte dieses Mädchen dich erhört, ganz ausgeschlossen!«
    Andrew konzentrierte sich, er dachte nach. Er hielt die Luft an, so lange, bis es nicht mehr ging.
    »Jetzt schnaufst du, Whisper«, sagte Clifford. Die Hand lag wie ein Stein auf Andrews Schulter.
    Der Lehrer beugte sich herunter und flüsterte in sein Ohr. »Ach, Söhnchen, denkst du vielleicht, ich wüsste nichts, glaubst du wirklich, ihr hättet ein Geheimnis? Du bist doch mausetot.« Und etwas lauter: »Ihr Herr Vater wurde aufgegriffen, Whisper. Er hat

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