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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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kahlem Schädel, schweren Lippen und tiefen, scharfen Augen.
    »Ich bin der Rektor dieser Schule, Monsieur.«
    Der Fremde sah den Rektor an, verharrte reglos. Plötzlich wurde Furges bleich. Die Puppe an der Hand des Fremden war er selbst, die großen Lippen und ein Schädel wie der Mond.
    »Zu Ihren Diensten, Rektor. Ich entschuldige mich. Bitte, verzeihen Sie, ich wusste nicht…« Der Fremde zog die Puppe wie einen Handschuh aus. »Heute Morgen erst fiel mir diese Puppe in den Schoß und nun begegnen wir uns schon…«
    Jetzt trug er die Rektorenpuppe an der anderen Hand.
    »Sie sind hier nicht erwünscht!«, sagte der Rektor und rief nach dem Schuldiener.
    Der Fremde trug plötzlich eine zweite Puppe an der anderen Hand. Die Puppe war er selbst, verblüffend ähnlich, der gleiche Mantel, das lange Haar und sein Gesicht. Die Puppen hatten kleine Säbel. Sie kämpften schon. Der Mann schrie und zog die Puppen ab und streckte seine rechte Hand vor. Sie blutete!
    »Ich habe Sie getroffen, Rektor. Das wollte ich nicht. Es tut mir Leid. Ein Puppenstich von einem Puppensäbel. Ist es vielleicht nur Puppenblut?«
    Furges trat unsicher zurück.
    »Ist hier jemand«, rief der Fremde in die Menge, »der sich manchmal vorstellt, dass alle Sterne, unsere Sonne, der Mond, die Erde, alles… dass dies alles ohne Leben sei? Dass das Universum zwar existiert, aber ohne uns und ohne einen Schöpfer? Dass alles da ist, aber niemand es erlebt! Welch fürchterliche Leere, wie traurig, sinnlos, wie tot die ganze Welt, unendlich tot und ewig stumm…«
    »Schluss jetzt!«, schrie Furges. Seine Stimme überschlug sich. »Wo bleibt die Wache?«
    Andrew sah, wie Charles nach hinten in den Flur weglief, als würde er gejagt. Er ging ihm nach. Der Lärm blieb hinter ihm zurück. Charles war verschwunden.
    Als Andrew den Hof durchquerte, sah er am Brunnen etwas Helles liegen. Es war der wunderliche Pfeil, das Kinderspielzeug, der fliegende Brief an Gott.
    Er hob ihn auf. Es war ein Brief von Margaret. Sie warnte ihn vor ihrem Vater. Dann las er und verstand es nicht. Sie sei in guter Hoffnung, der Kuss im Kirchenschiff habe ihm und ihr ein Kind geschenkt, das sie verbinde, sie seien unzertrennlich, mit Gottes Segen fest vereint, für immer und mit ihrem Blut verbunden. Der Vater wisse nichts, er halte sie gefangen und lasse sie von einem wahren Teufel scharf bewachen. Das heißt, er kann kein Teufel sein, weil er mich diese Zeilen schreiben lässt. Doch du nimm dich in Acht vor ihm! Ich liebe dich. Du bist mein Herz, mein Leben…

21. K APITEL ,
    worin Leute miteinander reden und
    sich dennoch nicht verstehen
     
     
     
    Margaret stieg voran. Ihr folgten die atemlose Magd mit dem Bettzeug in den Händen, Raspale, der einen Korb trug, und als Dritte und mit strenger Miene Lady Alice.
    Am vergangenen Abend war sie bei Dunkelheit von Westminster zurück nach Bucklesbury verbracht worden, wie eine Gefangene, im geschlossenen Wagen, der so sehr polterte und schaukelte, dass ihr fast schlecht geworden war.
    Nach ihrer Ankunft hatte Thomas, der in der Küche saß, sich abgewandt, als sie im Flur vorüberging. Die Küche zu betreten war ihr verboten worden – von einer Heumagd, die zufällig vorüberkam mit einer Kiepe Äpfel vor dem Bauch, frech grinsend. Sie hatte es genau gesehen!
    Sie hätte ja den Mut gehabt, es ihm zu sagen, alles: den Kuss und dass sie davon schwanger war. Dass ihr Gefühl für Andrew ihr das Wissen schenkte, dass solche Liebe heilig war. Aber Thomas hatte nicht mit ihr gesprochen, sondern mit diesem Fremden, Aron Boggis. Das kränkte sie.
    Sie ging weiter, setzte den Fuß auf die nächste Stufe, die im Kreise führte. Sie berührte mit den Fingerspitzen die raue, krumme Steinwand, roch die alte Luft und fühlte im Gesicht den Luftzug, der wie immer von unten hochtrieb, vor allem wenn es draußen stürmte. Gottes Atem, hatte sie als Kind gedacht und deutlich SEINE Nähe wahrgenommen, SEINEN Blick in ihre Seele. Wie jetzt, aber es war anders, nicht mehr so rein und selbstverständlich. Es war, als hätte sich ein klarer Himmel zugezogen, mit zarten, hohen Schleiern, die man eine Weile übersehen kann, bis sie dann doch das Sonnenlicht zerstreuen.
    Sie hörte die Schritte der anderen hinter sich, hörte Raspales rasselnden Atem, das Japsen der Magd und Lady Alice’ Seufzen. Wenigstens die Stiefmutter stand zu ihr, hatte vorhin ihre Hand gedrückt und sie mit festem Blick getröstet. Trotz dieser Sünde. Margaret zwang sich,

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