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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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nicht zu weinen. Sie blieb stehen und sagte, ohne sich umzudrehen: »Dieser Kuss, liebe Stiefmutter, das müssen Sie mir glauben… aus reiner Liebe…«
    »Aus körperlicher Liebe, Margaret«, antwortete Lady Alice. »Bitte, bleib nicht stehen. Ich bin froh, wenn wir oben sind und ich mich setzen kann. Körperliche Liebe, Margaret, du weißt genau, was das bedeutet.«
    »Der Kuss?«, fragte Margaret.
    »Nicht bloß ein Kuss.«
    »Was sonst?«
    »In ein paar Wochen werden wir es wissen.«
    »Was?«
    »Ob das Unglück eingetreten ist.«
    »Es ist kein Unglück.«
    »Was du schon fühlst mit deinen sechzehn Jahren!«
    Margaret wollte fragen, wie in dieser Kürze, in diesem Zeitklecks, der ein Kuss doch war, ein neues Leben in die Welt kommt. Auch wenn es durch Gottes Hand geschieht, so passiert es irgendwo in ihrem Körper! Es war so spannend, unvorstellbar und geheimnisvoll. Doch sie wagte nicht zu fragen.
    »Ich werde sterben«, sagte sie.
    »Sei still!«
    »Raspale, steh du mir bei!«
    »Denk ja nicht«, sagte die Stiefmutter, »dass ich entschuldige, was du getan hast. Ich nehme mir das gute Recht, Mitleid zu empfinden, aber kein Gedanke an Verständnis. Ich bedauere dich, mein Kind. Dein Vater ebenfalls. Er schämt sich, Margaret! Die Scham ist wie ein Messer in seinem guten Herzen, wie Pfeffer in den Augen.«
    Jedes Wort tat Margaret weh. Sie litt wie eine Heilige, wie Dymphna, die von ihrem Vater, einem Römer, enthauptet wurde, weil sie Christin war. Sie biss sich innen in die Wange, bis es blutete. Sie waren oben angelangt. Die Tür stand offen. Margaret trat ins Zimmer. Es roch nach Thomas. Der Arbeitstisch am Fenster war leer und traurig. Das Regal stand dürr und schief, die Bücher waren fortgenommen.
    Raspale stellte den Korb ab und schnaufte. Die Magd hustete, warf das Bettzeug hin und entfaltete die Laken.
    »Also«, sagte Lady Alice. »Wir lieben dich, daran ist nichts geändert. Du hast uns sehr erschreckt, verstehst du das denn nicht? Dein Vater will dich retten, vor der Welt in Schutz nehmen… und vor diesem Jungen.«
    »Ich liebe ihn.«
    »Ja, ja…« Lady Alice schüttelte den Kopf, legte eine Hand an Margarets Wange und hatte nasse Augen. »Dein Vater weiß, was Menschenschwäche ist.«
    »Er hasst Andrew.«
    »Er kann nicht schlafen.«
    »Warum spricht er nicht mit mir?«
    »Du hast sein Herz gebrochen.«
    »Aber nein!«
    »Doch, Margaret.« Die Dame half Raspale, den Korb auszuleeren. Etwas Brot war darin, eine Schale, ein Löffel für den Brei, ein geschlossener Krug mit Dünnbier, ein Fässchen Salz, zwei Tücher, Feuersteine, Kerzen, ein paar schlichte Leinenkleider. Raspale nahm den leeren Korb und ging. Die Magd folgte ihm. Lady Alice blieb.
    »Hör mir zu«, sagte sie. »Was ich dir jetzt sage, ist ein gefährliches Geheimnis. Wenn dein Vater erführe, dass ich überhaupt etwas davon weiß, würde er mich töten lassen.«
    Margaret versuchte, nicht aufgeregt zu wirken. Sie wischte sich die Wangen trocken und ordnete ein paar Dinge.
    »Vor der Heirat mit deiner Mutter Jane verbrachte er eine Zeit bei den Kartäusern. Er wollte Mönch sein, aus tiefster Überzeugung. Er scheiterte an seiner Lust, an seinem Fleisch. Ich sag es deutlich, damit du mich verstehst. Er wollte rein sein, der Geist sollte den Körper überwinden, wie Gott es fordert. Der Kampf um diese Reinheit hat deinen Vater fast zerbrochen. Er hat es mir nicht selbst erzählt, nie würde er das tun. Niemand außer mir weiß etwas davon. Dein Vater hat es aufgeschrieben und wieder weggeworfen. Gott hat es so gefügt, dass ich die Blätter lesen durfte, um meinen Mann in Schutz zu nehmen. So, wie ich es jetzt tue. Ich fühle mich dazu verpflichtet.«
    »Danke, liebe Stiefmutter«, sagte Margaret.
    »Du weißt, dass er dieses furchtbare Nesselhemd trägt und sich weigert, auf einem ordentlichen Bett zu liegen. Er versteckt dich nicht, um dich zu quälen, er macht sich väterliche Sorgen. Er versteht dich nicht, wenn du ihm sagst, dass du diesen Jungen liebst und von ihm schwanger bist. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ihr seid nicht verheiratet! Wieso erkläre ich dir das? Wenn ihr es bei dem Kuss belassen hättet…«
    »Das haben wir!«
    »Nein, mein Kind, ganz sicher nicht!« Lady Alice ging zur Tür.
    Margaret wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie legte die Hand auf ihren Bauch und fühlte. Das Leben war darin, ganz winzig, nur eine Ahnung. Aber es war da und sie würde es verteidigen und schützen.
    »Ich

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