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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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bin enttäuscht, dass du mich anlügst, Margaret«, sagte die Stiefmutter.
    »Ich lüge Sie nicht an«, antwortete Margaret.
    »Du verschweigst etwas und weißt sehr gut, um was es geht.«
    »Nein, Mutter!«
    Lady Alice wurde rot.
    »Ich gehe nach unten«, sagte sie. »Ich werde deinem Vater sagen, dass du mit allem einverstanden bist und dass du ihn liebst und ehrst.« Sie öffnete die Tür.
    Margaret war beschämt.
    Sie fühlte wieder, wie sich ihre Augen füllten, drehte sich zur Seite, damit die Mutter es nicht sah. Sie dachte an den Kuss. Es war, als sei der Kuss ein Wort, das einer fremden Sprache angehörte, die niemand um sie her verstand.

22. K APITEL ,
    in welchem die Steine sprechen
     
     
     
    Andrew stand im Flur, unweit von Cliffords Zimmertür. Der fliegende Brief, dieser Engel aus Papier roch zart nach Margaret. Er legte sich das Blatt auf sein Gesicht.
    Er faltete den Brief zusammen, ging zu Cliffords Zimmertür und horchte. Von drinnen klang ein rhythmisch klopfendes Geräusch durchs Türblatt auf den Flur. Seit dem Gespräch in der Klasse vor fünf Tagen hatte der Präzeptor sich gar nicht mehr um ihn geschert, bis heute Mittag im Refektorium.
    Andrew hob die Hand, um anzuklopfen, als die Tür aufsprang. Clifford sah ihn an. Das Gesicht war eine Mischung aus Verwunderung und Hohn. Der Lehrer trat zur Seite und verbeugte sich. Andrew ging ins Zimmer, einen Schritt weit nur. Sein Atem jagte.
    »Dass Sie mich fürchten, weiß ich, junger Mann.« Clifford schloss die Tür, verriegelte und klatschte ein paar Mal in die Hände. »Dies ist mein kleines Reich. Nur zu, reißen Sie die Augen auf, schauen Sie sich um!«
    Andrew staunte in der Tat. Kein Zollbreit war von den Wänden zu erkennen. Überall standen Schränke, Borde und Regale, in denen tausend Sachen lagen, verpackt in Tüten, Schachteln, Dosen, Gläsern und Phiolen, alles war beschriftet, hatte Namen, Nummern, winzige Embleme.
    Da waren Steine, Würmer, Vogelfedern, Nüsse und Insekten, Blätter, Muschelschalen und dazwischen viele Dinge, die Andrew nie zuvor gesehen hatte, geschliffene Gläser, seltsame Drahtschlaufen, vielleicht Knochen, Fellstücke, Ziernägel, Ringe aus Metall und Elfenbein…
    »Lobenswert, wie man sich engagiert, Sie und Ihre lieben Freunde, im Verborgenen«, sagte Clifford. »Als ich jung war, habe ich Juden verfolgt. Ich zündete ihre Mäntel und Haare an, es machte Spaß. Man hatte keine Zweifel, dass es rechtens sei. Schön, wie mutig man ist, wenn das Blut noch heiß ist, wenn es im Herzen braust und man noch der Erwürger aller Türken werden will, nicht wahr?«
    Er war Andrew nah gekommen. Der Junge trat ein Stück zurück.
    »Haben wir nicht schon über Angst gesprochen?« Cliffords Haut war porig. Andrew wagte nicht zu antworten. Er stand da und schaute zu Boden, schielte zu Clifford empor, der sich zum Glück wieder entfernt hatte und jetzt am Fenster stand. Er hielt etwas in der geschlossenen Hand, spielte damit. Etwa die Erbsen? Der Lehrer hüstelte. »Soll ich dir etwas zeigen? Etwas, das du nie zuvor gesehen hast. Auch ich kann dich verblüffen, nicht bloß dieser Taschenspieler mit seinen dummen Puppen.«
    Jäh entschlossen ging er zur Zimmertür und öffnete.
    »Na, komm schon!« Er zog Andrew aus dem Zimmer, schob ihn in den Flur. »Draußen, unter Gottes freiem Himmel.«
    Sie gingen zur Hoftür. Die Scharniere ächzten.
    »Hier vor aller Augen!« Clifford ging zur Hausmauer und legte eine Hand an die großen, vermauerten Quader.
    Andrew sah nur die Hand. Die Fingerhaut war eingerissen, hornig, aber sauber.
    »Dieser gute, feste Stein ist…« Clifford zeigte auf eine Stelle, an der kleine, regelmäßige Formen zu erkennen waren. »… das Meer, mein Junge!«
    Andrew blickte Clifford an, der ihm zunickte, als gelte es, ihm unumwunden Recht zu geben. Die Formen in dem Stein sahen aus wie Austernschalen, Muscheln oder etwas Ähnliches.
    »Es sind Muscheln, Master Whisper. Sie denken richtig. Steinerne Schalentiere mitten in unserem alten Portland Stone.« Clifford wurde laut. Er sang beinah: »Wo finden wir denn Schalentiere? Im Meer natürlich, oder am Meer! Jedenfalls nicht in Häuserwänden, in irgendwelchen Mauersteinen.« Er lachte abgehackt.
    Andrew war verblüfft. Er wusste gar nicht, was er denken sollte.
    »Nicht wahr?«, rief Clifford. »Ich war genauso vor den Kopf gestoßen. Was denn nun? Stein oder Meer? See oder Land? Wasser oder Erde? Sand oder Leben? Stadt oder Küste? Was hat sich Gott

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