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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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dabei gedacht? Es ist ein Rätsel, wenn du mich fragst, ein verdammt schweres Rätsel… Wir gehen in mein Zimmer zurück, mir ist ein bisschen kalt.«
    Clifford schien ein anderer Mensch zu sein. Seine Stimme klang weicher, der Blick war flüchtig, fast verlegen, seine Bewegungen langsam, behutsam beinah.
    Im Flur begegneten ihnen zwei Schüler, die sich sofort duckten, als sie Clifford kommen sahen.
    »Ich habe lange nachgedacht«, sagte der Lehrer, als sie wieder in dem Arbeitszimmer standen. »Das Geheimnis ist die Zeit. Es muss die Zeit sein. Wir haben es mit einem Zeitproblem zu tun.«
    Andrew setzte sich.
    »Und wir haben Formen.« Endlich öffnete Clifford seine Hand und hielt sie Andrew hin. Ein dunkler, glatter Stein lag da, nicht größer als ein Fingernagel.
    Andrew nahm ihn.
    »Sieht aus wie ein großer Zahn«, flüsterte er.
    »Es ist ein Raubtierzahn aus Stein«, sagte Clifford. »Es ist zum Verrücktwerden. Soll ich dir sagen, wo ich ihn gefunden habe? In The Gully. Er lag vor mir auf dem Weg, als hätte Gott gewollt, dass ich ihn finde, als hätte er mir sagen wollen: Schau nur, was es alles gibt!«
    Andrew drehte den Zahn hin und her. Es war, als wäre er aus Stein modelliert, säuberlich geschabt und liebevoll poliert worden.
    »Will Gott uns verwirren?«, fragte Clifford. »Die Steine unserer Stadt sind voll davon: Westminster, St. Pauls, Temple, Savoy Palace, Guildhall, Berkeley House, Lincoln’s Inn, geh hin, wohin du willst, du kannst die Formen überall entdecken. The Gully war ein Meer. Das ganze Land. Die Sintflut hat die Erde überschwemmt. Verstehst du? Dennoch: Wenn Gott uns bloß verwirren will, ist er nicht unser Gott. Du erinnerst dich, dass du mich in The Gully sahst, mit diesem Jungen, Tim McDuff. Ihm hatte ich dasselbe gezeigt. Wir teilten ein Geheimnis, dasselbe, das uns beide jetzt verbindet. Denkst du, dass du den Mut hast, mich dorthin zu begleiten?« Clifford blickte hoch, die Augen waren nass.
    Andrew nickte schwach, wollte es zurücknehmen, traute sich nicht mehr.
    »Wir werden Helden sein, Geister, Engel, Heilige. Gott spielt mit uns. Wir müssen ihn angreifen, damit er uns erlöst. Wir sind unser eigenes Schicksal, die Hoffnung auf die Heilsgewissheit liegt in unserer Hand. Wirst du mir folgen?«
    »Ja«, sagte Andrew.
    Er fühlte sich verzaubert.
    Clifford nickte anerkennend. »Du kennst den großen Brunnen in Upper Moor Fields? Ich warte dort in einer Sänfte, heute Abend. Sag es niemandem, wir teilen ein Geheimnis. Das Geheimnis des steinernen Meers. Hast du genügend Mut?«
    »Ja, Sir.« Andrew legte den Steinzahn auf den Tisch und wollte gehen.
    »Behalte ihn!«, sagte der Lehrer. »Er bringt dir Glück, er schützt dich.« Er nahm den Stein und legte ihn in Andrews Hand, wobei die Hände für einen Augenblick wie Schalen ineinander lagen.
    Andrew zog die Hand aus Cliffords, die sich heiß anfühlte. Er murmelte eine Entschuldigung, wandte sich um und öffnete die Zimmertür.

23. K APITEL ,
    worin der Vater schlechten Handel
    mit dem Preis der Tochter treibt
     
     
     
    »Ich darf mir also Hoffnungen machen?«, fragte William Gills, der Anwalt, der mit im Hause wohnte. Sein Gesicht war rot wie die Rhabarberstangen, die in einem großen, wirren Haufen auf dem Küchentisch lagen. Lady Alice schälte sie, schnitt sie in kleine Stücke und streute ab und zu Zucker über den wachsenden Gemüsehügel.
    »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete sie. »Ich spreche, und Sie hören, was Sie wollen, William. Margaret ist vorübergehend unpässlich. Sir Thomas möchte, dass man sie in Frieden lässt. Sie ist in diesem Alter, wo die Mädchen nun mal schwierig sind. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Nein.«
    »Wenn Sie es für sich behalten, verrate ich Ihnen ein Geheimnis.«
    William machte große Augen.
    »Es ist Margarets eigene Entscheidung. Sie wollte für eine Weile zurückgezogen im Turmzimmer ihres Vaters leben, beten, lesen, schreiben. Sehr ehrenvoll. Die heilige Einsiedlerin spielen. Ach, diese jungen Mädchen!«
    »Ich schätze Margaret sehr.«
    »Ich weiß, Gills. Aber lassen Sie die Zeit vergehen!«
    »Ich denke viel an sie.«
    »Ja, eben!«, versetzte Lady Alice. »Ein reines Kind, immer höflich, sauber und geschickt, was Küchendinge angeht. Ich bin so stolz auf sie, als wäre ich ihre richtige Mutter. Und Sie wissen, was der Vater für sie fühlt, wie viel Mühe er sich gemacht hat mit dem Unterricht, dass sie Griechisch und Latein beherrscht, dass sie die

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