Die Seelenpest
Dickens aufzusuchen, um Dick, den Jungen, abzupassen. Von ihm hoffte er etwas über Margaret zu erfahren. Außerdem bestand die Möglichkeit, sich in der Nähe der Stadtmauer zu verstecken, dort, wo ein enges Durcheinander alter Ställe, ungenutzter Gärten und Ruinen lag.
Er ging durch Threadneedle Street und St. Mary Axe bis an den inneren Mauergraben, wo er sich auf die Lauer legte. Er sah Dickens schiefes Haus, die Hundemeute jaulte – und gar nicht lange, da kam der Bengel durch den Garten auf die Straße. Andrew pfiff ihn her, gab ihm einen Penny und erfuhr brühwarm die Verlobungsneuigkeiten aus dem Hause Morland.
Wut stieg in ihm hoch. Vor dem Jungen ließ er sich nichts anmerken und gab ihm einen Zettel mit ein paar hastig hingeworfenen Worten.
»Versuche bitte, in das Haus zu kommen! Gib den Brief der Dame, Lady Alice, und sage meinen Namen, Andrew Whisper.«
Der Junge rannte los. Andrew schlich zu den Ruinen an der Mauer und versteckte sich.
Nach einer Weile sah er Gregor, wie er von gegenüber spähte. Andrew machte sich bemerkbar. Gregor keuchte aufgeregt, begrüßte ihn. Andrew erzählte eilig, was passiert war, von seiner Flucht und wo sich Cliffords Pferd befand. Gregor seinerseits berichtete, dass Rektor Furges mit dem Pedell nach Clifford suche, man sei schon bis in die Keller des New Inn vorgedrungen.
»Und noch was. Charles hat mir gebeichtet, dass mein Patenonkel ihn verfolgt. Er glaubt, er will ihn töten«
Andrew hörte nur halb hin.
»Du musst mir helfen, Greg«, bat er, »und ein paar Decken bringen, etwas, mit dem ich mich verkleiden kann, und was zu essen. Hierher an die Mauer ins Versteck. Ich komme nicht mehr in die Schule. Ich bin als Mörder vogelfrei. Ich hätte Cliffords Gaul dort stehen lassen sollen! Aber ich konnte gar nicht denken. Mit einem Schwert… den Hund… im Dunkeln! Er hätte mich genauso totgeschlagen…!«
Gregor versprach zu helfen und schlich sich weg.
30. K APITEL ,
worin ein schlecht’ Gewissen phantasiert
Lady Alice legte den fleckigen, zerknüllten Zettel vor Morland auf den Tisch des großen Zimmers. Morland rechnete und schrieb.
»Was ist das?«, fragte er.
»Eine Nachricht von diesem Jungen an deine Tochter. Er liebt sie.«
Morland griff danach und warf den Fetzen auf den Boden.
»Wie kommt das in mein Haus? Ich werde ihn…«
»Was?«, fragte sie schnippisch. »Willst du ihn auch wegverloben, stummverloben, aus dem Wege zaubern mit einem süßlich klingenden Verlobungsspruch?«
»Werd nicht frech, Weib!«, fauchte er sie an.
»So frech wie nötig, Morland«, erwiderte sie.
Sie war ein Stück vor ihm zurückgewichen. Sie wusste, dass er in seinem Jähzorn unerwartet losschlug, rücksichtslos, mit Fäusten manchmal. Seit sie einmal zurückgeschlagen hatte, ihm ins Gesicht, war er besonnener geworden, nicht weniger wütend, aber zögerlich.
»Du zerrst an deinen Rechten, Frau. Bis sie einmal reißen.«
»Du sperrst dein Kind im Turm ein und denkst, damit ist das Problem gelöst. Du verkuppelst sie und glaubst, damit ist ihre Schwangerschaft von Gott gesegnet.«
»Tu ich nicht!«, rief er wütend. »Ich bin genauso besorgt wie du.«
»Wenn es so wäre, hättest du sie längst gefragt, was wirklich vorgefallen ist. Du bist zu feige.«
»Sieh dich vor, du alte Henne!«
»Du hast Angst vor Andrew Whisper, vor einem Knaben. Du hast ein quälendes Gewissen. Es steht so sehr in dein Gesicht geschrieben!«
»Halts Maul! Misch dich nicht immer ein! Sie ist nicht deine Tochter!«
»Ach ja! Was hast du angestellt, Morland? Irgendwas ist schief gelaufen in deiner Politik. Ich kann es riechen.«
»Du stinkst, alte Füchsin!«, schrie er.
»Und du zeigst bloß, dass ich Recht habe, holder Ehemann!« Sie ging zur Zimmertür und öffnete. »Soll ich gehen oder bleiben? Wenn ich gehe, bist du mit deinem Scherbenhaufen ganz alleine, mit deiner Schuld. Wie steht’s? Lebt er nicht mehr, der arme Mann, der Vater dieses Schülers? Du kannst mit mir reden, deine Seele erleichtern. Wenn du willst. Entscheide dich!«
»Ich hasse dich, du Kuh!« Er schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie!«
»Du traust mir nicht.«
»Bei Gott, nein.«
»Ich will dir was verraten: Margaret, deine Tochter, ist nicht schwanger.«
Er gaffte.
»Ich weiß, wie eine Schwangere ausschaut, wie ihre Augen sind, wie ihre Haut sich anfühlt. Margaret ist nicht schwanger. Die beiden haben sich vielleicht geküsst, und sie denkt
Weitere Kostenlose Bücher