Die Seelenpest
frisch zu streichen.
Die meisten Schiffe waren festgemacht, auch Boggis’ Fährboot, das er dem Jungen auf dem Weg hierher nicht ohne Stolz gezeigt hatte. Der Wind war tückisch, und gegen Mittag hatte sich herumgesprochen, dass im Osten, vor Bermondsey, eine Fähre gekentert und sofort gesunken sei. Von den neun Passagieren habe sich nur einer retten können. Nein, dieser Mann, der sich auch Königlicher Brautbeschauer nannte, passte nicht hierher.
»Weißt du nicht, wie man tanzt. Was bist du für ein Kerl?«
Charles wich vor ihm zurück. Er fühlte plötzlich die Gefahr. Er war am Vortag nicht umsonst davongelaufen, nachdem der Mann im Flur der Schule den Brief an Gott wie einen Vogel hatte in den Himmel fliegen lassen.
»Ich kann nicht tanzen, Sir«, sagte Charles leise und horchte auf den Wind, der draußen um den Schuppen strich. »Was sollen wir hier?«
»Och!«, machte Boggis und tat erstaunt. Er stülpte seine nasse Unterlippe vor. »Ein Mann wie du, und kann nicht tanzen!« Er lachte arglos und räumte etwas in den Regalen hin und her.
Charles fühlte die Holzwand in seinem Rücken. Die Tür war auf der anderen Seite. Er hatte sich ganz ungeschickt hier in den Winkel treiben lassen. Jetzt wieder fortzulaufen traute er sich nicht.
Der Mann kam auf ihn zu. Blieb vor ihm stehen und sagte: »Da haben wir sie wieder, ich sehe sie in deinen Augen, die dumme Angst vor mir! Als ob ich dir was antun könnte, Master Summers. Ich denke, wir verstehen uns. Ich fühle nämlich mit dir. Ich kenne dich. Nachdem wir uns vor ein paar Tagen das erste Mal getroffen hatten, hast du gleich zu Gott gebetet. Oder nicht? Du hast gebetet und gewartet, dass er zu dir spricht, du weißt, wie ich das meine. Als du noch ein Kind warst, gar nicht lange her, da konntest du ihn sprechen hören, mit dir. Sag, dass es stimmt!«
»Ja, Sir«, sagte Charles. Ihm wurde kalt.
»Und nun schweigt Gott. Vor ein paar Tagen habe ich dich noch beneidet. Da hat man deine Hoffnung in den Augen lesen können. Das ist vorbei. Für immer.«
»Warum, Sir?«
»Weil du zu alt geworden bist, Charles. Du bist kein Kind mehr, das ist es.« Der Mann schüttelte den Kopf. Er blickte traurig.
Charles wich seinem Blick aus. Es war mühevoll.
»Aber mach dir keine Sorgen, ich zeig dir, wie man tanzt.« Er tat wieder einen Schritt auf Charles zu.
»Nein, bitte nicht, Sir!«
»Du glaubst nicht, wie inbrünstig ich gebetet habe, als ich in deinem Alter war. Dass Gott mich retten soll, dass ich ihn wieder reden hören darf, damit die Einsamkeit nicht länger in mir ist, die ich als Kind nicht kannte. Ich war ein viel zu junger Fährmann damals, noch lange nicht der Königliche Brautbeschauer, ich hatte von der Welt noch nichts gesehen. Ich brachte Menschen von dieser auf die andere Seite unseres Flusses, ohne nachzudenken. Bis ich begriff, dass unser ganzes Leben eine Fährfahrt ist, ein Hin und Her zwischen den Ufern, die uns aus der Ferne aber täuschen und immer wieder glauben machen, dass wir dort, wo wir noch nicht gewesen sind, ein Ziel erreichen können. Die Wahrheit ist, Charles, dass wir einsam und verloren sind, von jedem Augenblick an, in welchem wir dem Bösen unsere Seele öffneten. Du, ich, wir alle sind verloren. Tanz für mich, Junge! Es macht mir eine kleine Freude und dich erleichtert es vielleicht.«
»Ich möchte nicht, Sir.« Charles fühlte, wie die Furcht ihn schüttelte.
Der Mann griff in seine Manteltasche und zog ein Stück Papier hervor.
»Das ist er, Master Summers.«
»Wie bitte, Sir?«
»Dein Abschiedsbrief!«
»Sir, bitte…« Charles’ Stimme brach.
»Du weißt genau, was du getan hast.« Der Mann wedelte mit dem beschriebenen Papier. »Warst du schon beichten heute, Master Summers?«
»Nein, Sir.«
»Aber gestern doch.«
»Zur Vesper.«
»Und? Was hast du da gesagt?«
Charles war unsicher, ob er den Mann beschwindeln konnte, so wie er bei der Beichte häufig log.
»Ich weiß nicht mehr.«
»Und früher?«, fragte Boggis. »Willst du mir sagen, dass du dich an keine Beichte mehr erinnern kannst?«
»Ich…«
»Ja?«
Charles spürte, wie sich eine unsichtbare Schlinge zuzog, wie der Boden brannte, den zu betreten ihn der Mann jetzt drängte.
»Erinnere dich!«
»Ich kann nicht, Sir.«
»Du kannst!«
»Woran denn?«
»An eine ganz bestimmte Beichte. Du weißt genau, von welcher hier die Rede ist.«
»Sie meinen…?«
»Ja, ich meine!«, rief der Mann.
»Nein, Sir.«
»Doch, Master Summers! Aber ja!
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