Die Seelenquelle
Ziegen- oder Schafhaut hergestellt hätte. Es war annähernd rechteckig, hatte unregelmäßige Kanten und wies Knitterfalten auf; zudem gab es ein paar winzige Löcher und eine Reihe von Rissen oder Sprüngen – um es noch besser so aussehen zu lassen, als ob der Künstler tatsächlich ein Objekt der Wirklichkeit kopiert hätte. Die Oberfläche des dargestellten Pergaments war mit etlichen fantastischen Markierungen geschmückt: Es handelte sich um Spiralen und Wirbeln mit Punkten, um sich schneidende Linien und überlappende Kreise, um seltsame kryptische Symbole, die wie primitive Felszeichnungen aussahen – von der Art, wie man sie auf Felsen in Wüsten vorfand. Oder die wie Buchstaben eines imaginären Alphabets erschienen – oder wie stilisierte Monogramme von Namen in Sprachen, die niemals existiert hatten.
»Wie äußerst seltsam«, murmelte Cass. »Karten von imaginären Orten.«
»Die Karte vor Ihnen …« – Brendan strich mit den Fingerspitzen leicht über die Seite – »… diese Karte ist anders. Es ist eine Aufzeichnung von etwas, das eine der bemerkenswertesten Entdeckungen in der Geschichte der menschlichen Rasse sein muss.«
Cassandra senkte den Kopf und schaute sich die Zeichnung genauer an, wobei sie ihre Aufmerksamkeit auf die geheimnisvollen Hieroglyphen konzentrierte. Sie hatte so etwas schon früher gesehen – eingeritzt oder gemalt auf Felswänden von Volksstämmen auf der ganzen Welt, die vor langer Zeit untergegangen waren. Doch diese Symbole hatten wie der Rest der Darstellungen keine Bedeutung für sie. »Pergament, nicht wahr?«
»Richtig«, bestätigte der Ire, »allerdings von einer sehr seltenen und speziellen Art. Worauf Sie schauen, ist eine Abbildung der Karte, die Arthur Flinders-Petrie aufbewahrte, um seine bedeutenderen Entdeckungen zu protokollieren – Entdeckungen, die er auf seiner eigenen Haut festhalten ließ.«
»Das sind also Tattoos«, schlussfolgerte Cass.
»Genau das sind sie. Als Arthur starb, wurde seine Haut abgelöst und in Pergament umgewandelt, um die Karte aufzubewahren – damit die Aufzeichnung seiner Entdeckungen nicht verloren gehen sollte. Wir nennen sie die Meisterkarte, und sie ist von zentraler Bedeutung für die Arbeit der Gesellschaft. Hinter diesen Symbolen verstecken sich Wunder. Beispielsweise ist irgendwo auf dieser Karte der Quell der Seelen.« Brendan blickte auf. »Ich sehe, dass Sie mit der Legende nicht vertraut sind.«
»In keiner Weise«, gestand Cass.
»Es ist ein Mythos, der in vielen Kulturen seinen Niederschlag findet. Eine seiner bekanntesten Ausdrucksformen ist ein arabischer Glaube, der mit dem Felsendom in Jerusalem verbunden ist: Die Seelenquelle ist bekannt als ein Ort der Vorhölle, wo die Seelen der Toten auf den Tag des Jüngsten Gerichts warten – oder vielleicht auf die Chance, wiedergeboren zu werden. Doch der Mythos ist viel älter als diese Vorstellung; tatsächlich scheint er so alt wie die Menschheit selbst zu sein. Fast in jeder Kultur gibt es eine ähnliche Geschichte: der Jungbrunnen, das Elixier des ewigen Lebens, der Stein der Weisen. All das sind Variationen eines einzigen Themas, wie man sagen könnte – des Mythos von der Seelenquelle. Viele andere Materialien deuten darauf hin, dass sich die Quelle im ursprünglichen Paradies befindet – in Eden.«
Cassandras Verstand sprang vor zum voraussichtlichen Ende von Brendans Ausführungen. »Sie glauben, dass Arthur diese Seelenquelle gefunden hat und dass dies etwas zu tun hat mit dem Manipulieren der Zeit, dem Auswählen der Zukunft, dem Verändern der Vergangenheit und all dem. Das ist es doch, was Sie mir erzählen wollen, oder?«
»Wir können es nicht beweisen«, gestand Brendan. »Doch einige unserer Mitglieder haben Anlass zu der Auffassung, dass Arthur dies entdeckt und den Ort auf seiner Karte festgehalten hat.«
»Und dies da …« Cass zeigte auf die offene Seite des Buches vor ihr. »Sie glauben, dies ist eine Zeichnung von jener Karte, nicht wahr?«
»Ja, das glaube ich.« Er schürzte die Lippen und runzelte die Stirn, während er über die Abbildung auf der Seite nachdachte. »Leider ist es keine vertrauenswürdige Kopie der Originalkarte … bloß die Vorstellung eines Künstlers, die zweifellos auf einer mündlichen Beschreibung der Karte beruhte … Vielleicht hat sie jemand, der sie sah, Heredom beschrieben, der daraufhin die Zeichnung erstellt hat. Unglücklicherweise sagt Heredom nichts dazu. Doch so unzulänglich die Zeichnung
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