die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
sah sie an Mali vorbei, deren Gesichtsausdruck wütend wurde.
„Was machst du da?”, fragte sie Rhia scharf.
„Ich sehe ...”
„Du siehst was?”
Rhia blinzelte langsam und schüttelte dann den Kopf, als wollte sie ihre Vision loswerden. „Hmm ...”
„Was?” Mali stand auf, als wollte sie zum Kampf antreten. „Hmm’ was?”
„Nichts.” Sie wandte sich wieder der Kleidung zu. „Ich würde diesen Apfel da nicht essen, wenn ich du wäre, Mali.”
„Warum nicht?”
„Und Torynna, du solltest dich ab jetzt lieber von Wasser fernhalten.”
„Von welchem Wasser?” Torynnas Stimme zitterte. „Meinst du den Fluss?”
Rhia hob den Kopf und starrte ans andere Ufer, als würde dort die Antwort hegen. „Ja, ich denke, es geht um den Fluss. Pfützen sind wahrscheinlich noch sicher.” Sie machte sich wieder an ihre Wäsche.
Die zwei Frauen flüsterten hastig miteinander, und ihnen war der Schrecken anzuhören, auch wenn Rhia nur Bruchteile mithörte.
„Kann sie wirklich ...”
„... sie war noch nicht bei ihrer Weihung ...”
„... gehört, sie hat Visionen ...”
Rhia verspürte Genugtuung und lächelte die beiden Frauen breit an.
Mali stemmte die Hände in die Hüften. „Du machst Witze.” „Vielleicht.”
„Machst du. Du siehst nicht wirklich, wie wir ...” „Sterben? Wahrscheinlich nicht.”
Sie nahm ein weiteres Hemd und versprach sich, dass dies das erste und letzte Mal sein würde, dass sie ihr Dasein als Seherin des Todes benutzte, um andere einzuschüchtern. Dieser Eid, spürte sie, machte ihren Mangel an Scham über dieses eine Mal wett.
„Ich habe es doch gesagt”, flüsterte Mali Torynna zu. „Dieser kleine Wicht lügt.”
„Aber es war so gruselig.”
„Rhia ist schon immer gruselig gewesen.” Sie verstummte für einen kurzen Augenblick. „Willst du den Rest von meinem Apfel?”
Torynna kicherte. „Wovon hatten wir gesprochen?” „Kalindonier.” Malis Stimme wurde schärfer. „Wir haben doch eine Quelle hier, die wir fragen können.”
Rhia ignorierte sie und schrubbte fester über das Hemd ihres Vaters, um einen Schlammfleck am Ärmel zu entfernen.
„Die meinst du?”, fragte Torynna. „Sie ist doch noch nicht da gewesen.”
„Sie muss nicht dorthin gehen, um kalindonische Männer zu treffen. Sie hat fast ihr ganzes Leben mit zweien von ihnen verbracht.”
Rhia hörte auf zu schrubben und starrte Mali an.
„Oh, guck mal, sie weiß es nicht.” Mali schlug Torynna gegen die Schulter. „Genau wie ich gedacht habe.”
„Was weiß ich nicht?”, hakte Rhia nach und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten.
„Der Vater von Lycas und Nilo. Er ist nicht gestorben, wie deine Mutter dir gesagt hat. Er ist zurück nach Kahndos.”
Rhias Fäuste klammerten sich um das nasse Hemd. „Du lügst.”
„Frag deine Brüder. Sie haben es als Letzte herausgefunden, in der Nacht, in der deine Mutter gestorben ist.” Sie lächelte Rhia gespielt mitleidig an. „Oder vielmehr als Letzte vor dir.”
8. KAPITEL
D ie Tür zur Hütte ihrer Brüder öffnete sich ein kleines Stück. Eines von Nilos schwarzen Augen spähte durch die Lücke.
Ja? “
„Ich bin es”, sagte Rhia.
„Ich weiß.”
„Darf ich reinkommen?”
Nilo schlug die Tür zu. Rhia drehte am Riegel und trat trotzdem ein.
„Ich gehe nicht, ehe du mir nicht erklärst, wieso ihr wütend auf mich seid. Wenn du also willst, dass ich verschwinde, fang an zu reden.”
Nilos Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie. Er bedeutete Rhia, sich auf das Bärenfell neben dem Herd zu setzen.
Sie brauchte nur zwei Schritte, um den Teppich zu erreichen. Die Hütte war kaum halb so groß wie das Haus ihres Vaters und noch unordentlicher, als man es von einem Ort, an dem zwei junge Männer ohne die Aufsicht ihrer Mutter lebten, erwartet hätte. Der einzige saubere Bereich lag an der Wand, wo die Brüder ihre Dolchsammlung aufbewahrten. Die Klingen der Waffen, mit denen sie seit fast zehn Jahren trainierten, reichten in der Länge von einer Handbreit bis zur Länge ihres Unterarmes. Die geraden Dolche dienten zum Erstechen, die geschwungenen zum Schlitzen, aber sie waren alle scharf, tödlich und makellos.
Um sich zu setzen, musste sie einen halben Laib Brot aus dem Weg räumen, der so hart war, dass er selbst als Waffe hätte dienen können. Daneben stand ein Krug mit einem Rest Bier, das zu einem schleimigen braunen Brei geworden war, der roch wie das Innere eines Pferdemauls.
„Es könnte sauberer
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