die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Seite ist schöner als tausend Sonnenaufgänge, auch wenn das kein Trost sein mag.” Als sie nicht antwortete, fragte er leise: „Bist du nun bereit? Nach Kalindos zu reisen und bei Coranna zu lernen?”
Bereit? Sie würde sich nie bereit fühlen, unter wilden Kalindoniern zu leben, um zu lernen, ihre Gaben zu benutzen, indem sie Menschen sterben sah.
Dennoch ...
„Wann mache ich mich auf den Weg?”
„Wenn der Frühling naht. Bis deine Trauerzeit vorbei ist, haben wir längst tiefsten Winter, und reisen wären nicht ratsam. Ich bringe dich selbst in den Wald.”
Rhia wusste, dass sie dankbar sein sollte, vom Vorstehenden des Dorfrates bevorzugt behandelt zu werden, auch wenn sie vermutete, dass es mehr mit ihrem Wert als Krähe zu tun hatte als mit seinem Glauben an ihre Fähigkeiten.
„Aber zunächst”, sagte er, „muss ich dich im Wesen der Geister ausbilden. Wie man in sich selbst reist und ihre Heimstätten in der Geisterwelt besucht.”
Zum ersten Mal berührte Rhia die Spitzen ihrer frisch geschnittenen Haare. Die Ausbildung gab ihr die Möglichkeit zu fliehen, gab ihr einen Ort, an dem sie ihren Schmerz verstecken konnte, damit er ihr Herz nicht mehr zerstörte.
Jetzt war sie wirklich bereit.
7. KAPITEL
W ährend des nächsten Monats brachte Galen Rhia die Rituale und Bräuche bei, die den Erwachsenen von Asermos zugänglich waren. Sie lernte Gesänge und Gebete, um innere Ruhe zu finden, ohne die sie die Nachricht des Geistes falsch interpretieren oder gar nicht würde beachten können.
Galen nahm sie auch mit in den Wald, um ihr Uberlebenstechniken beizubringen, denn sie würde dort drei Tage und drei Nächte allein verweilen, ehe es zu ihrer Weihung kam. Er zeigte ihr, wie man Holz sammelte und ein Feuer anzündete und wie man das Wasser aus einem Bach reinigte, damit es keine Hinterlassenschaften von Tieren mehr enthielt. Er zeigte ihr den Pfad nach Kalindos, der Zweifel in ihr weckte – er schien den ganzen Weg bergauf zu führen.
Anderes praktisches Wissen beinhaltete das Zusammentreffen mit großen Waldbewohnern wie Wölfen, Pumas und Bären. Sie fürchtete von allen den Wolf am meisten, auch wenn sie wusste, dass er die geringste Bedrohung darstellte.
Ihre liebsten Stunden allerdings hatten mit den geistigen und nicht den körperlichen Herausforderungen zu tun. Unter Galens Anleitung machte sie sich in Trance auf Reisen in die Geisterwelt. Sie hatte ihr ganzes Leben lang Rituale befolgt, ohne sie infrage zu stellen, hatte verehrt, ohne ins Wanken zu geraten, und dadurch kamen ihr die Geister fern und gleichgültig vor, besonders nachdem sie der Kindheit entwachsen war. Jetzt wurden sie in ihr lebendig, jeder mit seinen eigenen Fähigkeiten, bis sie ihr wie alte Freunde erschienen. Rhia hatte viel verpasst, indem sie ihre Reise ins Erwachsensein hinausgezögert hatte, und es machte ihr Mühe, nicht über die verlorenen Jahre nachzugrübeln.
Nach einer besonders anstrengenden, aber auch fruchtbaren Sitzung in Galens Haus trat Rhia nach draußen und blinzelte in die grelle Nachmittagssonne. Das blendende Licht machte sie schwindelig, und sie tastete hinter sich, um die Tür zu schließen.
Links von ihr raschelte das Gras. „Da bist du ja.” Langsam drehte Rhia sich um und dachte über das Gesagte nach. Hier bin ich. Aber wo ist hier? Wer bin ich ?
Areas berührte ihren Arm. „Ich habe auf dich gewartet.” Sie sah zu ihm auf. Er sah neu aus, schärfer, als hätte jemand seinen Umriss mit einem angespitzten Stück Kohle umrandet.
„Du bist bei den Geistern gewesen, wie ich sehe.” Er strich ihr eine Locke aus der Stirn. „Deine Augen glänzen.”
Sie blinzelte. Jetzt verschwamm sein Umriss, und seine Ränder begannen, mit dem Hintergrund aus Haus und Bäumen zu verschmelzen.
„Vergib mir”, sagte sie, „ich bin ein wenig ...” Sie machte vage Bewegungen mit der Hand, um ihren Geisteszustand zu verdeutlichen. Sie war völlig durcheinander.
Areas lachte. „Daran gewöhnst du dich. Hast du Zeit, mit mir spazieren zu gehen?”
„Dein Vater hat gesagt, ich soll darüber nachdenken, was ich heute gelernt habe. Ich nehme an, er hat gemeint, dass ich das allein tun soll.”
„Ich halte dich nicht lange auf, versprochen.”
Rhia zögerte. Sie wollte nichts in ihrem Kopf hören außer ihre eigenen Gedanken, wollte nur ihrer neuen Erfahrung nachspüren. Aber sie wollte ihre Begegnungen auch mit jemandem teilen, der vor Kurzem die gleiche Reise unternommen hatte.
Außerdem
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