die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
versuchte zu sprechen, doch es gelang ihr nicht. So konnte sie nur schwach nicken.
„Auf Wiedersehen, Rhia.”
„Nein!”
Aber Krähe war verschwunden. Und mit ihm der Teich, die zwei Bäume und alle Kreaturen, die darin gelebt hatten. Die Lichtung selbst war nicht mehr als eine kleine Wiese. Um sie herum war der Wald wieder kalt geworden und der Wind schneidend.
Sie beeilte sich, etwas anzuziehen, und zweifelte einen Augenblick daran, dass überhaupt etwas passiert war.
„Ich bin immer in dir”, drang Krähes Stimme aus irgendetwas, das nicht ihre Erinnerung war.
Da wusste sie, dass alles wahr gewesen war, das Wahrste, was je in ihrem Leben geschehen sein mochte.
„Ich weiß”, antwortete sie und brach zusammen.
Als Rhia erwachte, war sie sich nicht sicher, ob durch die schmalen Schlitze in ihren Augenlidern der Morgen oder der Abend dämmerte. Der Himmel breitete sich in einem Violett, das an blaue Flecken erinnerte, über den Bäumen aus. Sie lag lange genug da, um zu bemerken, dass sich der Himmel etwas verdunkelte.
Schnell setzte sie sich auf. Sie musste dringend Feuerholz p>suchen. Ohne würde sie in der folgenden Nacht erfrieren oder zumindest elend leiden.
Als sie sich auf die Füße kämpfte, merkte sie zum ersten Mal seit ihrer Weihung, wie ihr der Magen knurrte. Sie war tatsächlich zurück in der wirklichen Welt, mit allen unbequemen Bedürfnissen.
Schockiert erinnerte sie sich an das getrocknete Wildfleisch am Boden ihres Rucksacks. Ihre Finger, die taub vor Kälte waren, brauchten zum Verrücktwerden lange, um den Knoten zu lösen. Sie schob Kleider und Decken zur Seite, bis ihre Finger auf das kleine Proviantpaket stießen.
Es war nicht viel, aber es sollte ihren Hunger stillen, bis Corannas Begleitung ankam. Außerdem war es alles, was sie hatte. Vielleicht konnte sie am Morgen nach essbaren Wurzeln suchen, wenn es um diese Jahreszeit so etwas überhaupt gab.
Ein leises Winseln ertönte von ihrer linken Seite. Sie sprang auf und fort von dem Geräusch, ein Fuß stolperte dabei über den anderen.
Ein Wolf stand am Rande der Lichtung.
Rhia erstarrte wie ein Kaninchen vor der Schlange. Sie hatte die Weihung ertragen, nur um von dem zerfleischt zu werden, was sie am meisten fürchtete.
Der Wolf trat einen Schritt auf sie zu, und auf einmal zweifelte Rhia an ihrer Furcht. Der Pelz der Kreatur war verfilzt und altersblass. Seine Augen wirkten eingesunken, und die Haut hing locker um einen knochigen Körper. Statt ihrem Blick herausfordernd zu begegnen, sah der Wolf auf ihre Hände und wendete sich dann ab.
Rhias Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie an die letzten Jahre ihres Hundes Boreas dachte. Er war auf zerbrechlichen Gliedern herumgestapft und hatte versucht, seinen Stolz zu bewahren, während er nach Futter bettelte, das die anderen Hunde ihm versagten.
Das Wolfsrudel muss diesen hier wegen seiner Schwäche p>verstoßen haben, dachte sie. Er sieht so traurig und einsam aus.
Und hungrig. Langsam trat Rhia einen Schritt zurück und sah sich nach einem Ast um, den sie als Waffe benutzen konnte. Wenn der Wolf versuchte, sie in seinem Zustand anzugreifen, konnte sie ihn wahrscheinlich so lange abwehren, bis er aufgab.
Statt näher zu kommen, sank der Wolf auf seinen Bauch und winselte. Er warf noch einen Seitenblick auf ihre Hände. Erst da erinnerte sich Rhia daran, was sie festhielt.
Das Essen, mit dem sie ihr Fasten brechen wollte. Das Essen, nach dem sie sich verzehrte, das Essen, das ihr Körper brauchte, um zu überleben.
„Oh nein”, flüsterte sie scharf. „Ich kann dir nichts abgeben. Ich will nicht. Es gehört mir.”
Der Wolf kroch auf dem Bauch näher zu ihr und legte dann seinen Kopf auf seine ausgestreckten Pfoten, um ihre Entscheidung in gemütlicherer Haltung abzuwarten.
„Du verstehst das nicht.” Rhia klammerte sich an die Wild-fleischstreifen. „Ich habe tagelang nichts gegessen. Ich brauche das hier. Ich kann nicht jagen, so wie du.”
Aber der Wolf schien kaum besser in der Lage, Beute zu fangen und zu töten, als sie selbst. Trotzdem, unter dem zottigen Pelz lag ein muskulöser Körper, egal, wie abgemagert er war. Wenn sie den Wolf fütterte, bekam er vielleicht genug Kraft, sich selbst durchzuschlagen.
„Ich weiß nicht, wann man mich abholen kommt”, sagte sie zu ihm. „Es könnte Tage dauern, bis ich das nächste Mal etwas zu essen bekomme. Das hier ist alles, was ich habe.”
Die weißen Ohren des Wolfes und seine Augenbrauen
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