die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Frucht wieder.
„Coranna ist genauso”, sagte er. „Stell dich nie zwischen sie und die nächste Mahlzeit – der wertvollste Rat, den ich dir für deine ganze Ausbildung geben kann.”
Rhia drehte den Apfel in den Händen und staunte darüber, dass er wieder aufgetaucht war. „Bist du Corannas Sohn?”
„Auf gewisse Weise”, antwortete Marek. „Als meine Eltern vor etwa zehn Jahren gestorben sind, bin ich zu ihr gezogen und habe ihr bei ihren Pflichten geholfen. Ich war erst zehn Jahre alt und noch nicht bereit, allein zu leben. Wir brauchten einander, also haben wir unsere eigene Familie gebildet.”
„Das ist wundervoll. Und ungewöhnlich.”
„Nicht in Kalindos. Wir halten nicht so viel von Blutsbanden. Jeder gibt auf jeden anderen acht. Das müssen wir, sonst könnten wir nicht überleben.”
„Das mit deinen Eltern tut mir leid. Ich habe meine Mutter letzten Sommer verloren.”
„Ich habe mich schon gefragt, wer gestorben ist, als ich deine kurzen Haare gesehen habe.”
Befangen zwirbelte Rhia die Enden ihrer Locken zwischen den Fingern. Sie reichten ihr gerade erst bis auf die Schultern. „Also schneidet man auch in Kalindos sein Haar ab, wenn man trauert?”
„Wir haben eine Menge Bräuche gemeinsam. Ich denke, du wirst bald herausfinden, dass wir einander gar nicht so fremd sind.”
Sie sah zu ihm hin. „Du bist der erste Kalindonier, dem ich je begegnet bin, und doch kann ich dich nicht einmal sehen. Das ist ein wenig merkwürdig.”
„Du kannst mich sehen.”
„Wie?”
„Es gibt zwei Möglichkeiten – auf Tageslicht warten, wenn die Sonne mich in meiner geringen Pracht zeigt, oder es so versuchen.” Er nahm ihre Hand und zog ihr den Fäustling aus.
„Was machst du da?”
„Ich lasse dich mich sehen.”
Er zog ihre offene Hand näher zu sich. Sie spürte warme Haut an ihrer, eine Wange mit kleinen Stoppeln, die lang genug waren, um weich statt kratzig zu sein. Ihre Finger legten sich um sein Kinn. Sie starrte genau auf die Form, die sie nachzeichneten, als sie an seinem Kiefer entlangfuhr.
„Du kannst mich besser sehen, wenn du die Augen schließt.” Rhia zögerte und befolgte dann seinen Rat. Er hatte recht. Sein Kinn war kräftig, aber nicht spitz. Sie legte die andere Hand unter seinen Kiefer, um ihn ruhig zu halten, während sie den Bereich um seine Augen untersuchte. Seine Brauen waren dünn und beschrieben einen leichten Bogen, und etwas, das sich wie dichte Wimpern anfühlte, strich ihr über die Haut. Sie ließ die Finger weiter seine Nase hinabwandern, die sich an der Spitze nach oben richtete. Dann hörte sie auf.
„Mach weiter”, flüsterte er.
Sie war sich plötzlich bewusst, wie nah sich ihre Körper waren, und hatte Angst, seinen Mund zu berühren. Stattdessen hielt sie ihm die Nase zu.
„Hey!” Marek lachte und versuchte, sich loszumachen, aber sie hielt fest, bis er nach ihrem Handgelenk griff und zudrückte. „Das hat wehgetan.”
„Tut mir leid.”
„Nein, tut es nicht.” Sie hörte, wie er sich mit der anderen Hand die Nase rieb. „Was habe ich getan, um das zu verdienen?”
„Noch nichts. Lässt du mich jetzt los?”
„Nicht, bis du fertig bist. Soweit du weißt, bin ich ein Glatzkopf mit Hasenscharte.”
„Dann halt still.”
Sie streckte vorsichtig die Hand aus, damit sie ihm nicht ins Auge stach. Das Erste, was ihre Hand berührte, war sein Mund.
Ihr Verstand befahl ihren Fingern, sich weiterzubewegen, aber sie gehorchten nicht und fuhren stattdessen den Umriss seiner Lippen nach, die sich bei ihrer Berührung leicht öffneten. Plötzlich überkam sie der verrückte Wunsch, die Fingerspitzen hineinzutauchen, damit sie die warme Feuchtigkeit darin spüren konnte. Sie meinte zu hören, wie sein Atem schneller ging.
Ohne die rechte Hand von seinen Lippen zu lösen, fuhr sie ihm mit der linken durch die Haare und keuchte auf.
Es war kurz. Sehr kurz, kaum zwei Fingerbreit.
„Du hast jemanden verloren”, flüsterte sie.
Er zögerte. „Ja.”
„Wen?”
Sanft löste er ihre Hände von seinem Kopf. „Das ist genug. Du musst müde sein.” Als er sie losließ, begann sie zu frösteln und fühlte sich allein. Eine Decke wurde aus Mareks Beutel gezogen. „Schlaf auf der Innenseite”, sagte er, „neben dem Baumstamm. Dort hast du es wärmer, und es ist sicherer.”
Rhia überlegte, ob sie Einwände erheben sollte, weil sie nicht verhätschelt werden musste, aber die Anstrengung der letzten Tage hatte ihr einiges
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