die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
sie.
Jemand kam näher und presste eine Fingerspitze an die Seite von Rhias Hals, um sie zu beruhigen. Sie spürte, wie ihr Puls die Berührung dieser Person begrüßte.
„Er schlägt jetzt kräftiger”, bemerkte Elora, „gleichmäßiger.”
„Also lebt sie”, flüsterte Marek. „Wenn nicht...”
„Sie lebt”, sagte Coranna. „Sie wird es schaffen.”
Marek schwieg einige Augenblicke lang. „Vergib mir, dass ich dir nicht vertraut habe.” In seiner Stimme lag echte Reue. „Ich hätte nicht zweifeln sollen.”
„Du hast jedes Recht, an mir zu zweifeln”, erwiderte Coranna leise.
Elora legte ihren Handrücken auf Rhias Stirn. „Sie ist noch kalt. Das wird eine lange Nacht.” Sie zog die Decke enger um sie herum. „Vielleicht solltet ihr zwei schlafen.”
„Nein”, sagten Marek und Coranna wie aus einem Mund. Etwas in Rhia taute auf und splitterte wie ein Fluss im Frühling. Der bisher schlimmste Schmerz, aber auch eine Erleichte-rung. Schmerzen bedeuteten, sie lebte.
„Dann sollte einer von euch ein paar Steine am Feuer wärmen”, sagte Elora. „Bald wird es Zeit, ihrem Körper Wärme zu geben.”
„Das mache ich.” Marek eilte aus der Höhle. Rhia stellte sich vor, wie er sich duckte, um sich den Kopf nicht an der Decke zu stoßen. Er dürfte schon unsichtbar sein, deshalb versuchte sie gar nicht erst, die Augen zu öffnen.
In Fetzen tauchten in Rhias Erinnerung die Stunden auf, ehe Krähe gekommen war, um sie zu holen. Sie erinnerte sich an unruhiges Umhergehen, Wut und ...
Was hatte sie zu ihnen gesagt? In ihrer Verzweiflung hatte sie getobt, um ihr Leben gebettelt, war alles andere als anmutig in den Tod gegangen. Die Scham durchflutete sie wie das Blut, das langsam in ihre Gliedmaßen zurückkehrte.
Sie war ein Feigling gewesen.
Mit Schrecken erinnerte sie sich an ihre letzten Worte, die sie an Marek gerichtet hatte. Es war um Coranna gegangen. Du müsstest sie nicht jeden Tag sehen und dich erinnern, was sie dir genommen hat. Sie dachte an den Schmerz in seiner Miene, wie er sich von ihnen beiden abgewandt hatte.
Und Coranna – die Worte mussten auch sie getroffen haben. Rhia krümmte sich zusammen und fürchtete ihre Rückkehr ins Leben.
Aber das Leben kam unausweichlich. Als Elora Rhias Arm aus dem Bündel zog und an ihrem Handgelenk nach einem Puls fühlte, spürte sie die sanften Hände der Heilerin, wenn auch nur sehr undeutlich, als wäre ihre Haut mehrere Zentimeter dick.
„Bringt die Steine”, sagte Elora. „Das Blut beginnt in ihre Glieder zu fließen. Wenn das zu schnell geht, dringt kaltes, stagniertes Blut aus den Armen und Beinen in den Rest ihres Körpers und lässt ihre Temperatur wieder fallen.”
Rhia bekam Angst. Konnte sie wieder sterben? Sie hatte so viele Fragen, aber ihre Kehle war zu kalt zum Sprechen.
Und wurde immer kälter. Ihr Herz begann, Schläge auszulassen – schlug schnell, dann gar nicht mehr, dann wieder schnell. Ihr Atem rasselte.
„Beeil dich!”, forderte Elora. Rhia wurde auf den Rücken gedreht und ihr anderer Arm aus dem Bündel befreit. Warme harte Gegenstände wurden ihr unter die Achseln und in den Nacken gelegt.
„Was geschieht jetzt?” Marek saß nahe bei Rhias Kopf. Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken, nach der Wärme, die er ihr in den kalten Nächten im Wald gespendet hatte.
„Wir verlieren sie”, sagte Elora knapp. „Ich muss einen Zauber anwenden.”
„Verlieren? Was soll das heißen?”
„Marek, komm her.” Coranna schnippte mit den Fingern. „Lass ihr Raum. Elora, brauchst du etwas?”
„Nur Stille.”
Nein, keine Stille, dachte Rhia. Sie musste Stimmen hören, musste sich an etwas von dieser Welt festhalten können.
Elora legte ihre Hände an beide Seiten von Rhias Becken, hielt einen Augenblick inne und begann dann zu singen.
Die getragene, hohe Melodie ging Rhia direkt ins Blut und schenkte ihr eine Wärme, die eine Seite ihres Körpers hinaufwanderte und die andere hinunter. Im Gegensatz zu Corannas tiefen beruhigenden Tönen, die den Geist aus dem Körper lockten, versetzte einem dieser Gesang einen Schock und belebte. Elora sang von der Sommersonne, und der gelbweiße Kreis selbst schien durch Rhias Körper zu reisen und dort stehen zu bleiben, wo ihre Beine in die Hüfte übergingen.
Die Heilerin wiederholte ihr Ritual an Rhias Schultern, dann an ihrem Hals, bis ihre Brust und ihr Bauch sich fast normal anfühlten. Ihr Herzschlag war jetzt ruhig, ohne Aussetzer und Sprünge, und ihr
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