die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
so kalt wie beim Sterben. „Ich muss eine Rede halten?”
Coranna klopfte ihr auf die Schulter. „Sorg dafür, dass sie froh darüber sind, ihren Tod in deine Hände zu legen.”
Langsam drehte Rhia sich zur Menge um. Das Licht der Fackeln blendete sie und ließ sie nur diejenigen erkennen, die ihr am nächsten standen. Sie erkannte niemanden. Rhia widerstand dem Drang, ihr Haar zu zwirbeln.
Plötzlich verstand sie es. Wenn die Menge sie ansah, sah man nicht das einst verkrüppelte Kind aus den Schatten, sondern eine mächtige junge Frau, die eine heroische Prüfung bestanden hatte, um ihren Wert zu beweisen.
„Danke”, sagte sie. Das schien ihnen zu gefallen, also sagte sie es noch einmal. „Danke, dass ihr mich in eurer Mitte aufgenommen habt. Ich hoffe, viel von euch zu lernen und ... und eine Quelle des Wohlwollens zu sein – des anhaltenden Wohlwollens – zwischen Kalindos und Asermos.
Wenn unsere Kulturen sich auch unterscheiden, so sind wir doch alle mit den Geistern verbunden, die unser Volk mit einer Welt voller Schönheit und Macht beschenkt haben, die sie mit uns teilen, indem sie jedem von uns die Magie und Weisheit einer ihrer Kreaturen zugestehen.”
Sie sah Coranna an, die ihren Blick ermutigend erwiderte. „Mein Geist”, fuhr sie fort, „ist Krähe, den viele fürchten, mehr noch als jedes Raubtier, denn seine Umarmung dauert ewig.” Mehr oder weniger. „Aber ihr sollt wissen, ihr werdet dieses Leben nicht allein verlassen. Und glaubt mir, wenn ich 257
euch sage, dass auf unsere eine weitere, wunderschöne Welt folgen wird.”
Die Gesichter um sie herum wurden mit einem Schlag ernst, und sie merkte, dass ihre Rede für diese Art von Versammlung vielleicht etwas zu morbide war. Sie ergriff einen Becher, der nahe ihrer Hand auf dem Tisch stand. „Aber heute Nacht wollen wir das Leben feiern ... und all seine Gaben.”
Die Menge jubelte, und alle, die einen Becher erreichen konnten, hoben ihn hoch und tranken mit ihr. Es war ein Zeichen ihrer neuen Stärke, dass sie den fast reinen Meloxa nicht wieder ausspuckte, nachdem er ihre Kehle berührt hatte.
Die Musik spielte wieder auf, wenn auch in einem trägeren Tempo als vorher, und man brachte das Essen. Rhia saß neben Coranna am Kopf der langen Tafel, und die anderen sechs Mitglieder des Dorfrates – auch Alankas Vater Razvin – saßen mit ihren Partnern oder Angetrauten neben ihr. Die Jüngeren, die nicht gerade das Essen servierten, hatten es sich um die Lagerfeuer herum bequem gemacht und lachten und balgten sich um den Platz. Sie wünschte, sie könnte sich ihnen anschließen – ein Wunsch, der verging, als ihr klar wurde, dass ihr Tisch als Erstes mit dem Essen beginnen durfte.
Einige Speisen kannte sie, andere nicht, aber alles war wohlschmeckend und wurde ihr freudig gereicht. Sie schenkte dem aufmerksamen jungen Mann, der ihr eine Flasche Wasser neben den Teller stellte, ein Lächeln. Ihm musste aufgefallen sein, dass sie ihr Essen nicht mit Meloxa herunterspülte. Er erwiderte ihr Lächeln, was ihr Inneres noch mehr erwärmte, als Speisen und Trank es getan hatten.
Ihr Kleid wurde beim Essen immer enger. Sie zog an ihrer Taille, doch der Stoff gab nicht nach. Die Enge zwang sie dazu, aufrecht zu sitzen, ganz im Gegensatz zu den Gestalten um sie herum, die über ihre Teller und Becher gekrümmt saßen und sich vorbeugten, um einander über den allgemeinen Lärm hinweg hören zu können.
Coranna stellte den Mann zu ihrer Rechten als Etar, die Eule, vor, eines von sieben Ratsmitgliedern. Rhia erkannte ihn als Vater von Alankas Freund Pirrik, aber sie entschied, es nicht zu erwähnen, falls Etar nichts von der Beziehung wusste. Nicht dass man vor einer Eule irgendetwas verbergen konnte.
„Was hältst du von Kalindos, Rhia?”, fragte Etar.
„Es ist wunderschön. Ah ...” Sie sah sich das Gerangel um die Lagerfeuer an. „Erstaunlich.”
„Es ist nicht der richtige Ort für Leute unseres Alters. Nicht wahr, Coranna?”
„Sprich für dich selbst, alter Mann.” Coranna zog an seinem langen grauen Pferdeschwanz. Rhia spürte, dass die beiden mehr als nur Freundschaft verband.
„Meine Knochen sind nicht mehr, was sie mal waren.” Etar krümmte sich übertrieben, als er eine Eichel mit einem kleinen Stein auf dem Tisch zermalmte. „An manchen Tagen kann ich den Gedanken kaum ertragen, aus meinem eigenen Haus klettern zu müssen. Runter ist für die Knie viel schwerer als rauf.” Er pulte das Fleisch aus der
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