die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
wartet alle mal. Ihr könnt nicht vom Ehrengast erwarten, dass er so angezogen am Kopf der Tafel Platz nimmt.” Sie deutete auf Rhias Erscheinung. Die Dorfbewohner stöhnten ungeduldig, als sie sie wieder auf den Boden stellten. „Ihr habt drei Tage mit dem Essen gewartet”, sagte Alanka zu ihnen, „ein paar Minuten mehr schafft ihr auch noch. Jetzt bleibt hier.”
Sie zerrte Rhia durch die Menge zu einer dicht gewachsenen Hecke. Als sie vor den Blicken der anderen verborgen waren, zog sie an den Bändern von Rhias Hose. „Zieh die aus.”
„Was soll das heißen, sie haben drei Tage mit dem Essen gewartet?”
„Wir haben seit deiner Abreise gefastet.” Auf Rhias überraschten Blick hin erklärte sie: „Aus Solidarität natürlich. Außerdem konnten wir so das Essen aufsparen. Und unseren Appetit steigern.”
„Ihr alle wusstet es.” Langsam löste Rhia den Verschluss ihrer Hose. „Ihr alle wusstet, dass ich sterben werde.”
Alanka verspannte sich. „Es tut mir so leid. Coranna hat es uns erzählt, nachdem Marek fort war, um dich von deiner Weihung abzuholen. Ich wollte es dir sagen, aber das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Vergibst du mir?”
Rhia konnte es nicht ertragen, dass die Atmosphäre auf einmal so angespannt war. „Das kommt darauf an, was du mir anziehen willst.”
Mit einer ausladenden Geste und grinsend hielt Alanka ihr eine lange Robe in einem dunklen leuchtenden Violett hin, das Rhia bisher noch nie gesehen hatte, außer bei Wildblumen. Das samtige Material glitt ihr durch die Finger wie pralles Frühlingsgras. Sie seufzte anerkennend.
„Das soll ich anziehen?”
Alanka neigte den Kopf zur Seite. „Nein, damit sollst du Töpfe schrubben.”
„Aber ich dachte, die Frauen tragen hier nur Hosen.” „Dann muss es sich wohl um eine ganz besondere Gelegenheit handeln.” Sie wedelte mit dem Kleid. „Zieh es an, wir verhungern.”
Rhia legte die Kleider ab und seufzte, als Alanka ihr das Kleid über den Kopf zog. Ihre Freundin verknotete die Bänder am Rücken, damit das Kleidungsstück eng anlag und Rhias wenige Kurven betonte. Ein kurzes fließendes Cape hing vom Rücken der Robe hinab, mit dem sie sich fühlte, als trüge sie ein Paar leichte, elegante Flügel. Das Kleid wärmte gerade genug für den Frühlingstag, da die Ärmel bis zu ihren Handgelenken reichten und der Halsausschnitt bis zu ihrem Schlüsselbein.
Alanka stieß einen leisen Pfiff aus. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich da rausbringen sollte.”
„Warum? Sieht es so schlimm aus?”
„Es sieht nicht schlimm aus. Aber wenn du da rausgehst, guckt mich vielleicht nie mehr ein Mann an.” Sie neigte den Kopf zur Seite. „Na ja, ich kann eine Pause gebrauchen. Jetzt deine Haare.”
Rhia setzte sich auf einen Stein, und Alanka flocht ihr Haar zu eleganten Schlaufen. Bald war sie so weit... jedenfalls äußerlich.
Corannas Stimme erklang von der anderen Seite des Gebüschs. „Sollen wir?”
Rhia zögerte, also drehte sie Alanka in Richtung Dorf um und gab ihr einen kleinen Schubs.
Als sie in Sicht kam, nahm Coranna ihre Hand und führte sie zur Feier. Die Menge verstummte. Sie teilte sich, um Rhia Platz zu machen, mit halb geneigten Köpfen, fast so, als wollten sie gleich auf die Knie fallen. Rhia betete, dass sie es nicht taten.
Die zwei Krähenfrauen traten an den langen Tisch und stellten sich an sein Kopfende. Coranna richtete sich zu ihrer vollen einschüchternden Größe auf und streckte der Menge die Hände entgegen.
„Danke für die Mühen, die ihr für meinen neuen Schützling auf euch genommen habt. Es macht mir Freude, euch mitzuteilen, dass sie das Ritual mutig und ruhig überstanden hat.”
Rhia ließ sich nichts anmerken, während die Menge jubelte und klatschte. Sie wollte nicht so tun, als wäre sie stolz auf diese Lüge, aber sie wollte Coranna auch nicht durch einen skeptischen Blick beschämen.
Als der Applaus verhallt war, fuhr Coranna fort: „Ihre Magie und ihre Weisheit werden uns allen dienen, aber denkt daran, dass sie noch lernen muss, ihre Gaben zu benutzen, wie 256
wir es auf eine gewisse Weise alle müssen. Ich präsentiere euch Krähes neueste Gabe an unser Volk – Rhia aus Asermos.”
Statt zu jubeln, sahen alle erwartungsvoll zu Rhia. Sollte sie Magie für sie benutzen? Ein Lied über ihre Reise auf die andere Seite und wieder zurück singen?
Coranna beugte sich zu ihr und flüsterte über Rhias Kopf hinweg: „Sag etwas.”
Ihr Herz wurde kalt, fast
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