die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Dank. Du aber auch.”
„Nein, tue ich nicht. Ich sehe wahrscheinlich tot aus.” „Ich zeige es dir. Bist du bereit?”
„Zeigst mir was?”
„Alles.”
Ja.”
Er streckte seinen Schnabel nach ihr aus. Als er ihr Herz berührte, wurde alles, was schwer war, zu Licht. Sie war frei.
Sie stand außerhalb des Kreises und betrachtete eine junge Frau in Weiß, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag.
„Ich bin so klein”, sagte sie zu Krähe.
„Jetzt nicht mehr.”
Daraufhin änderte sich ihr Blickwinkel. Statt sich zu drehen, wurde ihr Blick weiter, sodass sie alles sah, was um sie herumlag, als wäre ihr Hinterkopf durchsichtig geworden. Nichts -und alles – war jetzt ein Teil von ihr.
Coranna hörte auf zu singen und kniete sich neben den Körper der Frau. Sie salbte ihr noch einmal die Stirn – diesmal mit einem anderen Ol als am Anfang des Rituals -, drehte sich dann um und sah sie direkt an.
„Sie kann uns sehen?”
„Natürlich. Wink ihr zum Abschied.”
„Wie lange werde ich fort sein?”
„Für sie nicht mehr als ein paar Minuten.”
Marek stand am Eingang der Höhle. Sein Gesicht war nass von Tränen. Coranna nickte ihm aufmunternd zu, für sie schon eine überschwängliche Geste, aber er drehte sich von ihr weg, gerade so weit, dass er Eloras mitfühlender Umarmung entgingRhia wandte sich ebenfalls ab. „Ich kann seinen Schmerz nicht ertragen. Er fühlt sich an wie mein eigener.”
Krähe wandte sich dem Kreis zu. „Winke Coranna zum Abschied. Das ist wichtig.”
Rhia hatte keine Hand, die sie heben konnte, also dachte sie nur daran, zu winken, daran, der Frau, die sie vor kurzer Zeit noch gehasst hatte, einen warmen Abschiedsgruß zu schicken. Coranna hob die Hand und lächelte. Dann zog sie den weißen Schleier über das, was von Rhia übrig war.
Die Federn von Krähe, noch weicher, als Rhia es in Erinnerung hatte, strichen durch sie hindurch.
Frieden. Licht.
Am Abhang des Berges, wo eigentlich der Ausblick auf den großen Wald und die Täler dahinter sein sollte, tat sich ein heller Tunnel vor ihnen auf.
Sobald sie ihn betraten, verschwand alles andere. Es gab nicht nur keinen Schmerz mehr, sondern Rhia fragte sich auch, ob es so etwas je gegeben hatte. Alles, was sie noch spürte, war Liebe.
Sie war größer und kleiner als die Liebe zwischen Partnern oder Geschwistern oder zwischen Eltern und Kind. Es war die Liebe von allem zu allem anderen, alles zusammengefügt und an einem Ort vereint. Auch wenn es ihr jetzt entgegenkam, musste es doch schon immer in ihrer Reichweite gewesen sein.
Wenn sie immer noch Augen hätte, sie wären mit Tränen gefüllt.
„Ist es das, was jeder sieht?”, fragte sie Krähe.
„Dieser Teil ist bei allen Menschen gleich. Was du nach dem Tunnel siehst, gehört nur dir allein.”
„Was sehen Tiere?”
„Unmöglich, das einem Menschen zu beschreiben. Du würdest es nicht verstehen, genauso wenig, wie ein Hund verstehen würde, was du gleich sehen wirst.”
Rhia sah sich im Tunnel um. „Ich verstehe schon das hier nicht. Wie soll ich verstehen, was als Nächstes kommt?”
Sie spürte, wie Krähe lächelte.
Die andere Seite.
Sie empfing Rhia mit Geräuschen, die man sehen, Anblicken, die man riechen, Geschmäckern, die man berühren konnte. Alle Sinne schienen einander auszutauschen und verbanden sich zu einem einzigen.
Honigsüßes Licht badete sie von innen nach außen und von außen nach innen, bis es zwischen innen und außen keinen Unterschied mehr gab.
Sie lachte fast, als sie an den Namen dieses Ortes dachte: die andere Seite. Andere Seite von was? War sie nicht schon immer hier gewesen? Alle Zeit schrumpfte zu einem einzigen Augenblick zusammen, einem ewigen Jetzt. Sie wollte nie wieder gehen und fand Trost in der Tatsache, dass dieses Nie niemals kommen würde.
Die Geister der Toten waren um sie herum, aber „tot” war ein zu ... totes Wort, um sie zu beschreiben. Ihre Leben waren immer gewesen und würden immer sein, hier, eingeschmiegt ins Reich der Krähe.
„Warum bist du schwarz?”, fragte sie ihn. „Du solltest jede Farbe haben, so wie Rabe, passend zu deiner Heimat.”
„Schwarz ist nur, was du in deiner Welt siehst. Sieh mich jetzt an.”
Sie drehte sich zu ihm um. Er war immer noch schwarz. Vielleicht war es ein Scherz gewesen. Doch als sie länger in die Tiefen seiner Dunkelheit blickte, sah, hörte, schmeckte, fühlte sie jede Farbe. Sie waren nicht zu einem tanzenden Regenbogen ineinander verdreht –
Weitere Kostenlose Bücher