Die Seelenzauberin - 2
streckte ihre zarte Hand aus. Er zögerte, reichte ihr aber doch den Arm. Dann unterdrückte er einen Schauer, als ihre schlanken Finger die Narben unter dem Stoff seines Ärmels berührten und Erinnerungen an verzweifelte Qualen, einen Haufen zerbrochener Steine und einen mumifizierten Leichnam beschworen, der sein Entsetzen hinausschrie …
Am liebsten hätte er die Wunden wieder aufgerissen. Er wollte spüren, wie das heiße Blut herausfloss und ihn von allem Unrat reinigte. Lehrten die Chirurgi nicht, dass alle körperlichen Beschwerden auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte zurückzuführen seien? Vielleicht könnte eine solche Tat die Finsternis in seiner Seele mit ausbluten lassen, und er würde sich wieder sauber fühlen.
In düstere Gedanken versunken, die ihm wie ein Schwarm tollwütiger Fledermäuse durch den Kopf schwirrten, führte er seine königliche Halbschwester zum Kartenraum des Erzprotektors.
Auch Kamala war zu dem Treffen geladen worden.
Vielleicht hätte man das nicht getan, wenn Rhys nicht darauf gedrungen hätte. Vielleicht wäre das natürliche Misstrauen gegen alles Fremde stärker gewesen als die Neugier, und man hätte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Zumindest der Feldmarschall war voller Argwohn und hätte sie womöglich stundenlang verhört, wenn Rhys nicht eingegriffen hätte. (Was wolltet Ihr in Alkal? Was wisst Ihr über die Lage dort? Wie kam es, dass Ihr genau dann auftauchtet, als Rhys Eure Hilfe brauchte?) Sie hatte seine flatternden Nerven mit Zauberei etwas beruhigt, aber ihre Kräfte nur sparsam eingesetzt; eine zu starke Veränderung seines Wesens hätte den Menschen auffallen können, die ihm nahestanden.
Letzten Endes hatte Rhys den Erzprotektor und seine Gemahlin überzeugt. Kamala hatte den Speer gesehen. Sie hatte seine Macht gespürt und von seinem Wahnsinn gekostet, und ihr könnten Dinge in Erinnerung geblieben sein, die ihm entgangen waren. Wenn sie erörtern wollten, was gegen die Schwächung des Heiligen Zorns zu tun sei, brauchten sie ihre Hilfe.
Und deshalb war sie nun hier, mit all den Adeligen, Zauberern und den Feldherrn des Keirdwyn-Heeres. Natürlich war auch Rhys gekommen, aber er schien so gar nicht dazuzugehören. Als er Keirdwyn verließ, waren alle diese Menschen für ihn wie eine große Familie gewesen: vertraute Freunde und Verbündete, Waffenbrüder und Vorgesetzte. Nun stand er wieder inmitten dieser Familie und war dennoch mutterseelenallein. Das geheime Wissen, das er aus Alkal mitgebracht hatte, war wie ein Gefängnis, aus dem er nicht ausbrechen konnte, ohne die Wahrheit zu offenbaren. Nur Kamala, die in sein Geheimnis eingeweiht war, konnte die Schwelle überqueren und nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste an seiner Seite stehen. Nur sie konnte ihm die Last erleichtern.
Es war eine ungewohnte – und unerwünschte – Verantwortung.
Sie hatte ihn gefragt: Solltest du ihnen nicht die Wahrheit sagen? Haben sie nicht ein Recht darauf, sie zu erfahren?
Seine Antwort hatte gelautet: Sie stehen vor einem Krieg. Soll ich ihnen gerade dann allen Mut nehmen, wenn sie ihn am dringendsten brauchen?
Es hatte allerdings nicht sehr überzeugt geklungen, außerdem schlief er schon seit Längerem nicht gut, und sie wusste nicht, wie lange er noch durchhalten konnte, ohne zusammenzubrechen.
Nun war seine Schwester gekommen, und aus ihrer Gegenwart schien er ein wenig Trost zu schöpfen. Gwynofar Keirdwyn war blass und schmal, eine zarte Erscheinung, die einen leicht vergessen ließ, wie mächtig sie eigentlich war. Immerhin war sie die Mutter des Großkönigs Salvator Aurelius … und des Prinzen Andovan. Des armen, todgeweihten Andovan, dem Kamala so lange das Leben ausgesaugt hatte, um ihre Zauberkräfte damit zu speisen, bis er daran zugrunde gegangen war. Wie sehr ihm seine Mutter doch ähnelte! Es war, als säße Andovans Geist mit am Tisch. Unheimlich.
Aber die Frau hatte Rhys’ Seele ein wenig Ruhe gebracht, und das war zu begrüßen.
An Gwynofars Seite saß der Magister, der sie nach Keirdwyn befördert hatte, ein älterer Mann mit schneeweißem Haar und langem Bart. Das musste Ramirus sein. Kamala beschwor einen Faden der Macht, um sich an Aethanus’ Beschreibung zu erinnern.
Er ist uralt und mächtig und von gefährlichem Scharfblick, und er liebt seltsame Experimente mit Morati-Fürsten, die er wie Spielfiguren hin und her schiebt. Einige dieser Spiele gehen über Jahrhunderte, und niemand außer ihm versteht,
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