Die Seelenzauberin - 2
und brüchig. Die Tintenschrift war ursprünglich sicherlich tiefschwarz gewesen, doch jetzt zu einem hellen Braun verblasst, und manchmal schien kaum mehr als ein Schatten des Originals zurückgeblieben zu sein.
Rommel blätterte die Seiten mit jener ehrfürchtigen Scheu um, die er gewöhnlich nur für heilige Texte empfand. Seine Greisenfinger berührten das Papier so vorsichtig, dass der Staub an den Rändern nicht aufgewirbelt wurde. Wenn er Blatt für Blatt glatt strich, sah man Zeichen, die auffallend denen glichen, die Rhys sich in den Arm geschnitten hatte. Bei anderen war die Ähnlichkeit nur vage, sie unterschieden sich in der Krümmung einer Unterlänge oder dem Winkel eines Aufstrichs. Einige wenige fanden sich nirgendwo unter den von Rhys kopierten Symbolen wieder.
Die Listen, die der Archivar ursprünglich angefertigt hatte, waren nun über und über mit gekritzelten Anmerkungen versehen: Übersetzungen, Zeichnungen im Karsi-Stil und eigenen Kommentaren.
»… Ein außergewöhnliches Werk«, sagte er gerade. »Mit seiner Hilfe bin ich bei der Deutung dieser Symbole sehr viel weiter gekommen, als ich es für möglich gehalten hätte.« Er schaute zu Ramirus auf. »Wir alle sind Euch zu großem Dank verpflichtet.«
Kamala hüstelte leicht hinter vorgehaltener Hand und verbarg damit den Anflug eines Lächelns. Der bärtige Magister hätte mit dem aus ihren Ziegelscherben gewonnenen Wissen vieles anstellen können, dass er Fälschungen antiker Texte anfertigte, hätte sie ihm nicht zugetraut. Aber es war ein genialer Schachzug. Im Anschluss an Lazaroths Geständnis, er habe mit seinen Zauberkräften keine neuen Karsi-Quellen ausfindig machen können, war Ramirus plötzlich mit diesem Buch angekommen, das allem Anschein nach genau solch eine Quelle war. Eine gründlichere Blamage, als er sie Lazaroth damit bereitet hatte, konnte man sich kaum vorstellen. Und das ausgerechnet vor einem königlichen Patron! Ramirus musste sehr mit sich zufrieden sein.
Aber das ließ er sich natürlich nicht anmerken, denn auch das gehörte zum Spiel. Vermutlich hatte er sein »antikes« Buch mit so viel Zauberei – getarnt als Schutzzauber zur Verstärkung der brüchigen Seiten – getränkt, dass kein anderer Magister seine wirkliche Herkunft ergründen konnte. Lazaroth mochte den Verdacht hegen, dass man ihm einen Streich gespielt hatte, aber er würde es niemals nachweisen können.
Rommel schob das Buch beiseite und breitete abermals seine Zeichnungen aus. »Damit ist gesichert, dass es sich beim ersten Teil des Textes um eine Bitte an irdische und übernatürliche Mächte handelt, zu einem Opus magnum, einem Großen Werk ihre Unterstützung zu geben. Doch abgesehen von einigen Ergänzungen zu der gestern vorgelegten Liste bringt Ramirus’ Quelle keine neuen Erkenntnisse. Ich möchte anmerken, dass zwischen einigen der Piktoglyphen, die Rhys vom Speer mitbrachte, und den Versionen in diesem Buch leichte Abweichungen bestehen; ich musste mir bei der Korrektur einige Freiheiten erlauben.
Für den zweiten Teil liefert das neue Material ebenfalls weitere Einzelheiten, doch der grobe Sinn bleibt unverändert. Wir finden hier eine lange Liste menschlicher Leiden, ohne Zweifel eine Beschreibung der Wirkung des Heiligen Zorns auf lebende Menschen. Das wirft jedoch eine Frage auf: Die Inschrift wurde doch wohl vor der Entstehung des Zorns angefertigt? Unseren Aufzeichnungen zufolge wussten unsere Vorfahren jedoch nicht, was die Götter mit ihnen vorhatten; als der Heilige Zorn auf das Land fiel, sei seine Macht für Menschen wie Seelenfresser gleichermaßen überraschend gewesen. Wie kann also die Wirkung so genau beschrieben werden, bevor es ihn überhaupt gab?« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir brauchen mehr als eine einfache Übersetzung, um aus alledem klug zu werden.«
»Und was ist mit dem dritten Abschnitt?«, fragte der Erzprotektor. »Ihr hattet angenommen, es handle sich um eine Weissagung irgendwelcher Art.«
»Oder um eine Liste von Anweisungen. Das mögt Ihr selbst beurteilen.« Er räusperte sich und zog ein neues Blatt mit Notizen heran. »Zwar lässt sich die Struktur des Textes unmöglich bestimmen, ohne die Sprache des ursprünglichen Verfassers zu kennen, aber der Abschnitt gliedert sich zweifellos in drei Vierzeiler. Und so lautet eine grobe Übersetzung in unsere Sprache:
Sieben mal sieben tragen weiter die Flamme.
Nach sieben mal sieben das Vergessen.
In sieben Seelen glimmt nur
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