Die Seherin der Kelten
großen Hunger leiden, weil sie fünf Zehntel ihres Getreides als Steuern abgeben mussten, und tagelang haben sie nur von geschmolzenem Schnee gelebt, damit sie wenigstens ihren Kindern noch etwas zu essen geben können. Deine Kinder werden diesen Winter nicht sterben müssen, denn ich habe mir von Seneca Geld geliehen, und das verwende ich dazu, um jene zu ernähren, deren Leben von meinem Schutz abhängt. Das hier ist meine Schlacht und meine Art zu kämpfen. Auch du wirst das noch begreifen. Wenn du Graine lehren willst, eine Führerin zu werden, wie es ihrer Abstammung entspricht, dann solltest du sie das hier lehren. Es wird keine Armee mehr geben, Breaca, die Eceni besitzen nicht mehr den Mut dazu. Verstehst du das?«
»Nein. Aber ich verstehe, wie du so denken kannst.« Breaca erhob sich. Sie ließ den Blick einmal über jede der umgedrehten Geldtruhen schweifen. Keine einzige Münze lag mehr auf dem Boden der Kisten. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie seit Tagesanbruch nichts mehr zu sich genommen hatte und dass sich ihr Magen schon vor einer ganzen Weile zusammenzuziehen begonnen hatte und nun vernehmlich knurrte. »Was passiert, wenn Seneca auf der Rückzahlung seines Kredits besteht, du aber nicht zahlen kannst?«, fragte sie.
»Ich kann ja zahlen. Durch den Handel und die Steuern, die ich selbst erheben darf, habe ich bereits mehr eingenommen, als hier einst in den Truhen lag. Zwar liegt das jetzt nicht alles vor uns ausgebreitet und ist in der Währung der Eceni, aber Silber ist Silber, und er wird sich schon nicht darüber beschweren.« Prasutagos grinste zaghaft. »Aber wenn ich durch irgendwelche unglücklichen Umstände doch noch verarmen sollte und nicht mehr zahlen könnte, dann wäre er natürlich berechtigt, bis zur vollständigen Begleichung meiner Schulden auch Sachgüter einzufordern; Gold, Getreide, Pferde, Hunde...«
»Sklaven?« Breaca spürte, wie sich in ihrer Brust ein Gefühl der Kälte zusammenballte. S oll ich dir vielleicht einmal vor Augen führen, Breaca von den Eceni, wie es ist für ein Volk, geschröpft zu werden, bis ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr zum Leben bleibt?
Prasutagos missdeutete ihre Besorgnis und antwortete: »Auch Sklaven, selbstverständlich. Die Mitglieder des königlichen Haushalts sind davon jedoch ausgenommen. Auf so etwas achten die Römer. Die, deren Anspruch auf einen königlichen Titel nur auf den allerdünnsten Blutsbanden und auf Inzest beruht, der ja offiziell auch gar nicht zulässig ist, gerade die haben einen erstaunlich großen Respekt vor jenen, deren Anspruch auf einen königlichen Titel echt ist und sich über unzählige Generationen zurückverfolgen lässt. Was auch immer passieren mag, sie werden weder dich noch deine Kinder anrühren. Sogar Cygfa, die ja nur dem Namen nach deine Tochter ist, ist vor ihnen sicher. Alle anderen, von denen sie meinen, dass sie auf dem Sklavenmarkt einen gewissen Preis erzielen könnten, werden sich die Römer allerdings nehmen.«
»Und das würdest du zulassen?«
»Es liegt doch gar nicht in meiner Macht, sie von so etwas abzuhalten. Ich bin doch bloß deshalb König, weil sie beschlossen haben, mir diesen Titel zu geben. Wollten sie mir den eines Tages aberkennen und stattdessen einem anderen verleihen, könnte ich sie nicht daran hindern.«
»Und wenn wir nicht mehr die königliche Familie sind, dann sind wir auch nicht mehr länger geschützt?«
»Ganz genau.«
In diesem Augenblick war es wahrlich schwer, nicht an die Vision von dem Sklavenpferch zu denken. Und die Tränen, die Graine in dieser Vision weinte, waren nicht mehr golden, sondern es waren Tränen aus Blut, und sie ließen ihr Gesicht wie ein Schlachtfeld erscheinen.
Entlang der einen Wand stand ein Bett. Es war mit gefärbten Schaffellen bedeckt, unter denen wiederum eine komplette Pferdehaut lag. Breaca setzte sich auf die Bettkante und starrte auf ihre Handrücken hinab, bis die Vision von ihrer Tochter wieder verblasste und sie ihre Hände wieder klar erkennen konnte.
Tagos lächelte ein wenig traurig. »Die Römer wollen keinen Krieg im Osten«, sagte er. »So viel habt ihr mit euren Schlachten im Westen zumindest schon einmal erreicht. Sie wollen sich gerne den Frieden erhalten, darum werden sie uns nicht provozieren. Und wir wollen unser Leben behalten, darum werden auch wir sie nicht herausfordern. Das ist zwar nicht gerade die Sorte Leben, von der man träumt, aber es reicht aus.«
Wie ein Geschenk offenbarte
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