Die Seherin von Garmisch
Fuchs,
hatten ziemlich schuldbewusst dreingeschaut.
Wenn er ehrlich war, war es ihm genauso um seine
eigene Psychohygiene gegangen wie um die disziplinarische Maßnahme. Er hatte
Dampf abgelassen, wie Burgl ihm das immer riet, und die Rede war ihm in seinem
gerechten Zorn wohl auch ganz eindrucksvoll gelungen. Trotzdem machte er sich
keine Illusionen, was ihre Nachhaltigkeit anging. Aber für die nächsten Tage
wenigstens würden sich Frau Fuchs und ihre Mittäter zurückhalten, sodass er mit
ein bisschen Glück die Seherinnen-Geschichte aus der Tür hatte, bis die
Diskretion der Dienststelle das nächste Mal leckschlug.
Er setzte sich entschlossen an den Schreibtisch und
begann mit der Erledigung der undelegierbaren Aufgaben eines EKHK : Beurteilungen schreiben,
Belobigungen aussprechen, Kopierpapier bestellen. Er hatte gerade ein Achtel
seines notwendigen Tagespensums erledigt, als Schafmann reinkam.
»Der Zeuge aus Grainau hat angerufen«, sagte er mit
einem schiefen Grinsen. »Die Satanisten haben wohl grade Probe.«
»Fährst du hin?«
»Eigentlich wollt ich kurz zum Arzt«, sagte Schafmann.
»Wegen meinem Zeh.«
Schwemmer senkte den Blick auf die Papiere vor sich
und schwieg. Schafmann war ein guter Polizist und ihm bei Weitem der liebste
der Kollegen, aber seine Hypochondrie war nervenzehrend.
Wenn er sich wenigstens mal krankschreiben lassen
würde, dachte Schwemmer. Rennt von Arzt zu Arzt, und wenn er wirklich mal was
hat, spielt er den Helden.
»Und? Wen schickst du?«, fragte Schwemmer.
»Ich hab keinen«, sagte Schafmann. »Der eine ist bei
einer Vernehmung, einer hat frei und der andere Grippe.«
Schwemmer verstand. Er wollte gerade ausholen,
Schafmann zur Verschiebung seines Arzttermins zu verdonnern, als er dem
Kollegen in die Augen sah. Schafmann zwinkerte ihm leicht zu, und Schwemmer
verstand, was hinter der plötzlichen Personalnot steckte.
Geh einfach mal an die Luft, bedeutete Schafmanns
Blick; nutz die Gelegenheit und lenk dich mal ab. Mach mal was anderes. Könnte
doch ganz lustig werden.
»Na schön«, sagte Schwemmer betont dienstlich. »Wenn
du keinen hast, dann muss ich das ja wohl machen. Gibt es schon einen
Bericht?«
Schafmann hatte ihm das Papier auf den Tisch gelegt,
bevor er den Satz beendet hatte.
»Dann bin ich mal weg«, sagte Schafmann. Er lächelte
Schwemmer zu, dann war er aus der Tür.
Schwemmer überflog den dünnen Bericht, dann machte er
sich auf den Weg nach Grainau.
* * *
Wenn Johanna Kindel aufgesehen hätte, hätte sie das
Fenster von Schafmanns Büro sehen können. Aber sie sah nicht auf. Sie stand mit
gesenktem Kopf vor dem Grab der Familie Kindel.
»Theodor Kindel«, stand auf dem Marterl, »1935–1999«.
Und »Sabine Kindel, 1974–1999«.
Sie betete, was ihr nirgendwo schwerer fiel als hier.
Aber sie tat es, wie sie es immer getan hatte, rang sich ein monotones Gebet
ab, in der Hoffnung, es würde nicht schaden.
Zwei emaillierte Fotos waren auf dem Kreuz befestigt.
Eines zeigte eine junge Frau von herber Schönheit, deren melancholischer Blick
den Betrachter direkt zu durchschauen schien.
Auf dem anderen war ein kräftiger, gut aussehender
Mann in seinen Sechzigern zu sehen, er hatte volles, dunkles Haar ohne eine
einzige graue Strähne und ein warmes Lächeln, das Johanna immer noch das Herz
brechen konnte, wenn die Erinnerung daran zu stark wurde.
Johanna strich sanft über die Bilder ihres Mannes und
ihrer einzigen Tochter, dann ging sie in die Hocke, zupfte ein paar Unkräuter
und richtete den Strauß in der Steckvase.
»I woaß ned, was i machn soll, Theo«, murmelte sie.
Johanna schloss die Haustür auf. In der Diele streifte
sie sich die Schuhe von den Füßen und stellte sie ordentlich nebeneinander in
den Schuhschrank unter dem runden Spiegel. Dabei rückte sie Dannis Sandalen und
Severins schwarze Basketballschuhe an ihre Plätze. Dann streifte sie ihre
Filzlatschen über und ging in die Küche.
Danni hatte am Nachmittag Sport und würde über Mittag
bei einer Schulfreundin bleiben. Severin hatte gesagt, er habe Probe, was
bedeutete, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wann er nach Hause kommen
würde.
Du musst was essen, sagte sich Johanna und bereitete
sich eine Brotzeit mit einer Tasse Schnellkaffee. Aber als sie die Brotscheiben
und den Schinken ansah, verließ sie jeder Appetit. Sie musste sich regelrecht
zwingen zu essen. Wenigstens die Wärme des Kaffees tat ihr wohl.
Sie aß auf und schob dann ihren Stuhl ans
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