Die Seherin von Garmisch
Telefon.
Erneut wählte sie die Nummer der einzigen Familie Speck im Telefonbuch an.
Dieses Mal meldete sich eine Frauenstimme.
»Griaß Gott, i bin de Kindel Johanna«, meldete sie
sich so unbefangen wie möglich. »I woaß ned, ob i da richtig bin bei Eane. I
such an Oliver Speck.«
»Ja, das ist mein Sohn«, antwortete die Stimme. »Hat
er wieder was angestellt?«
»Na …« Johanna brachte ihre kleine vorbereitete
Notlüge vor. »I hab nur a Joppn gfundn, bei unserm Buam, dem Severin, und i hab
dacht, des konnt scho de vom Oliver sei. Aber i bin gar ned sicher, ob’s
wirklich da Oliver … weil, se hoaßn eam ganz anders …«
Olivers Mutter ließ ein kleines, trauriges Lachen
hören. »Ach ja. Spacko nennen die Buben ihn. Das findet er gar nicht lustig.«
»I hab eam lang ned mehr gsehn«, sagte Johanna
vorsichtig.
»Ich auch nicht.« Frau Speck räusperte sich, dann zog
sie die Nase hoch.
»Frau Speck, i …« Johanna suchte nach Worten, aber sie
wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber dann brach es aus Frau Speck hervor.
»Ich hab doch alles versucht. Ich weiß nicht mehr, was
ich machen soll.« Johanna konnte sie kaum verstehen durch ihr Schluchzen.
»Letztes Jahr hat er die Schule hingeworfen, und mein Mann hat ihm gesagt, dann
machst halt eine Lehre, und erst hat er ja auch gut gearbeitet, hat der Meister
gesagt, aber seit drei Wochen ist er nimmer da gewesen. Wenn mein Mann das
erfährt. Der ist auf Montage. Ich hab mich noch gar nicht getraut … Und jetzt
…«
Frau Speck brach nun vollends in Tränen aus, und
Johanna fühlte einen immer härter werdenden Kloß im Hals.
»Und jetzt ist er seit zwei Tagen nicht mehr zu Haus
gewesen, und ich weiß nicht, wo er steckt«, schluchzte Frau Speck.
»Warns denn scho bei der Polizei?«
»Nein! Ich kann doch nicht … ich mein, er ist doch
schon siebzehn, da kann ich doch nicht … vielleicht ist er ja nur bei einem
Mädel …«
»Gehens zur Polizei. Bittschön. Sonst müssens Eana am
End Vorwürf macha.«
»Was glaubens denn, was ihm passiert sein könnte?«
»I woaß ned …«
Frau Speck schwieg eine Weile. Ein paarmal hörte
Johanna sie die Nase hochziehen. »Ich schau mal … Danke für Ihren Rat. Pfüat
Eana«, sagte sie dann und legte auf.
Johanna saß auf ihrem Stuhl und senkte den Kopf. Eine
halbe Minute verharrte sie so. Dann riss sie sich zusammen. Sie nahm den Hörer
wieder ab und wählte die Nummer der Polizeiwache.
Hauptkommissar Schwemmer war nicht im Haus, wurde ihr
von seiner Sekretärin mitgeteilt. Sie wunderte sich ein wenig, wie abweisend
die Dame war. Am Morgen war sie noch so zuvorkommend gewesen. Sie hinterließ
die Nachricht, Oliver Speck sei seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen.
Dann stand sie auf, ging in die Waschküche und warf
Sechzig-Grad-Wäsche in die Maschine. Etwas Besseres gab es jetzt nicht zu tun
für sie.
* * *
Es war eine kleine, alte Fabrikhalle. Sie stand außer
Sicht der nächsten Wohnhäuser, nah am Waldrand im Schatten des
Zugspitzbahndepots. Vor der schweren Stahltür wartete sichtbar ungeduldig ein
Mann auf Schwemmer. Es war Herr Gärtner, ein hagerer Endfünfziger mit dichtem
grauem Haar, festem Händedruck und empörtem Gesichtsausdruck.
»Seit einer Stund sind die zugange, da unten«, sagte
er. »Ich hab aufgepasst. Es ist keiner rausgekommen.«
»Nett, dass Sie hier Wache schieben«, sagte Schwemmer.
»Was hätten Sie denn unternommen, wenn einer rausgekommen wäre ?«
Der Mann sah ihn verblüfft an. Darüber hatte er sich
offenbar noch keine Gedanken gemacht.
»Wieso glauben Sie denn eigentlich, das seien
Satanisten?«, fragte Schwemmer.
»Schaun Sie die halt an«, antwortete Herr Gärtner nur.
»Sie meinen, die sehen so aus?«
»Freilich.«
»Und wie sehen Satanisten aus?«
»Na, so wie diese Burschen! Ich bin mal da unten
gewesen …« Er wies auf die Stahltür. »Die haben ein Pentagramm an der Wand!«
»Dann will ich das mal überprüfen«, sagte Schwemmer.
»Sie sollten da nicht alleine runtergehen«, sagte
Gärtner, als Schwemmer die schwere Stahltür aufschob.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin bewaffnet«,
antwortete Schwemmer. Das stimmte zwar nicht, schien ihm aber passend.
»Ich wart hier«, sagte Gärtner entschlossen.
Schwemmer nickte ihm dankbar zu und schloss die Tür
wieder hinter sich. Drinnen schüttelte er mit leisem Lachen den Kopf über
seinen besorgten Leibwächter. Eine einzelne nackte Glühbirne erhellte die
Treppe, die hinter der Tür in
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