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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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sinnlos war zu planen. Sie konnten einfach nicht wissen, was vor ihnen lag, was nutzten da also Pläne?
    Nichts. Rein gar nichts. Doch er hatte einmal eine militärische Ausbildung genossen und konnte seine Gedanken ebenso wenig davon abhalten, alle Eventualitäten durchzuspielen, wie er die Hoffnung unterdrücken konnte, die ihn plötzlich beim Anblick der Frau des Kommandanten durchflutet hatte. Er sah zu seiner Schwester hinüber, die gar nicht zu bemerken schien, wie viele Blicke sie auf sich zog, neidische Blicke. Neid nicht auf ihren zerschlissenen braunen Mantel oder ihren geraden Rücken. Neid auch nicht auf ihr flammend rotes Haar, das sie artig unter ihrer Wollmütze versteckte, wie Alexej sie angewiesen hatte, das sich jedoch immer wieder, wenn sie nicht aufpasste, in kleinen störrischen Löckchen darunter hervorstahl.
    Nein. Das alles war nicht der Grund, warum diese Blicke ihr folgten. Worum sie alle beneideten, das war die Unbezähmbarkeit und Dickköpfigkeit, die Lydia ausstrahlte, eine sprühende Energie, die sie alle gerne selbst gehabt hätten. Da war etwas Ungebrochenes, Unbändiges an ihr, an der Art, wie sie den Kopf herumwarf oder den Blick umherhuschen ließ. Darum beneidete man sie. Mochte er sie auch in noch so unförmige Mäntel stecken, ihr die hässlichsten Mützen auf den Kopf stülpen – das ließ sich einfach nicht verbergen. Er zündete sich einen frischen Stumpen an und sah, wie Lydia den Kopf drehte und ihm ein scheues, fast schüchternes Lächeln zuwarf.
    Er wusste, warum er mitgekommen war. Ihretwegen.
    »Wir sind auf dem richtigen Weg.«
    Alexejs Worte überraschten Lydia. Sie bestiegen gerade den Zug, der doch noch eingetroffen war, inmitten einer dicken Rauchwolke. Um sie herum herrschte großes Gedränge auf dem Bahnsteig, aber der große Kosak hatte einfach nur gegrinst und die Leute von der Treppe abgehalten, damit Lydia ungestört einsteigen konnte. Alexej reichte ihr die Hand, um ihr zu helfen, und das war der Moment, als er gesagt hatte: »Wir sind auf dem richtigen Weg.«
    »Hat ja auch lang genug gedauert.« Sie spürte, wie Zuneigung sie durchströmte, als sie nach seiner Hand griff.
    »Kommt nur darauf an weiterzumachen, Tag für Tag.«
    »Ich weiß, und wir werden immer besser, Alexej. Jetzt sind wir auf dem richtigen Weg, und das wird auch so bleiben.«
    Er zögerte, erwiderte jedoch den Druck ihrer Finger. Erst in diesem Augenblick kam Lydia der Gedanke, dass sie ihn missverstanden haben könnte. Vielleicht hatte Alexej ja gar nicht von ihnen geredet – von ihr und ihm. Vielleicht hatte er sich auf die Tatsache bezogen, dass sie das Arbeitslager bald gefunden haben würden. Plötzlich war ihr das Missverständnis peinlich.
    »Lydia.« Alexej sprang hinter ihr in den Zug und berührte sie an der Schulter. »Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin.«
    Sie drehte sich zu ihm um. »Ich auch«, erwiderte sie.
    Lydia zog die Decke fester um ihre Schultern und ließ sich zwischen Alexej und Popkow tief in den Sitz sinken. Das Zugabteil war voll, doch die meisten ihrer Mitreisenden dösten. Ein alter Mann drüben an der Tür schnaufte geräuschvoll in seinen Schnurrbart.
    »Aus welchem Teil von Russland stammst du, Mädchen?«
    Es war der Fahrgast gegenüber von ihr, der ihr diese Frage gestellt hatte, die Frau, die in dem Hotelzimmer neben ihr so laut geschnarcht hatte. Sie war mittleren Alters, pummelig und trug ihr geblümtes Kopftuch so fest umgebunden, dass ihre Backen aussahen wie die eines Hamsters.
    Lydia freute sich über die Frage, denn sie bedeutete, dass sich all ihre Mühen gelohnt hatten. Seit Monaten hatte sie nichts anderes als Russisch gesprochen, und mittlerweile dachte sie sogar in dieser Sprache. Irgendwie schienen die Worte so perfekt in ihren Mund zu passen, als hätten sie immer dorthin gehört. Von dem Moment an, als sie China hinter sich gelassen hatten, hatten sich Alexej und Popkow eisern geweigert, etwas anderes mit ihr zu sprechen als Russisch.
    Sie hatte geächzt und gestöhnt und gejammert, doch Alexej hatte sich nicht davon abbringen lassen. Für ihn war das alles kein Problem. Er hatte bis zu seinem zwölften Lebensjahr in St. Petersburg gelebt und außerdem den Vorteil, dass seine Mutter, die Gräfin Serowa, selbst als sie nach der bolschewistischen Revolution in China lebten, darauf bestanden hatte, dass sie in ihren vier Wänden ausschließlich ihre Muttersprache benutzten. Folglich hatte er damit auch keine Probleme. Sein Russisch war

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