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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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unbeleuchtet, doch ein Halbmond gab gerade so viel von seinem flüssigen Schein ab, dass Alexej erkennen konnte, dass der Betrunkene ein dicker Mann war und die schäbige Straße ansonsten menschenleer. Die dicke Schnee- und Eisschicht knirschte unter den Füßen wie zerbrochenes Glas, aber der Mann schien nicht zu bemerken, dass er ihm folgte. Wieder geriet er ins Stolpern, stieß ein Ächzen aus, das laut genug war, dass Alexej es hören konnte, und sank auf die Knie. Oje, Betrunkene bedeuteten immer Schwierigkeiten. Und Alexej hatte gerade genug mit seinen eigenen Problemen zu tun. Andererseits konnte er den armen Kerl auch nicht dort auf dem Bürgersteig erfrieren lassen. In wenigen Schritten hatte er ihn eingeholt.
    »Genosse?«
    Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter, um ihn zu stützen und davor zu bewahren, dass er mit dem Gesicht voraus aufs Eis fiel. Dabei gruben sich seine Finger in einen dicken, feuchten Pelz, und ihm wurde klar, dass die unförmige Gestalt des Mannes von einem riesigen Pelzmantel herrührte, dessen Kragen er bis zu den Ohren hochgeschlagen hatte.
    »Genosse«, sagte Alexej noch einmal, »du musst dich irgendwo ausschlafen, wo es warm ist.«
    Ein undeutliches, zusammenhangloses Murmeln drang durch die steifen Lippen.
    Mudak! Scheiße! Alexej wollte die Sache hinter sich bringen. Er schob seine Schulter unter die Achselhöhle des Mannes und wappnete sich gegen das Gewicht, das sich gleich darauflegen würde. »Jetzt komm schon, weitergehen.«
    Die einzige Reaktion des Mannes im Pelzmantel war, dass er sich schwer atmend auf Alexej stützte, doch seine Beine rührten sich nicht. Sein Kinn lag auf seiner Brust, die Augen waren zugekniffen.
    »Du musst dich bewegen, Genosse, oder du wirst erfrieren.«
    Immer noch nichts. Jede Nacht erfroren in Moskau mehrere Menschen am Straßenrand. Der schwere Atem des Mannes stieg wie ein schmaler Streifen weißer Seide in die Luft, und die Hand krallte sich bei jedem keuchenden Atemzug in Alexejs Arm. Alexej beugte sich zu ihm und roch den Übelkeit erregenden Gestank, der aus dem Pelz aufstieg.
    »Was ist los, Genosse? Bist du krank?«
    Ein seltsames Geräusch entrang sich der Kehle des Mannes wie das Pfeifen eines kleinen Vogels. Scheiße! Das war nicht bloß das Röcheln eines Betrunkenen. Alexej stellten sich die Nackenhaare auf, denn das war das Geräusch, das der Sensenmann macht, wenn er einen Menschen holen kommt. Er hatte es schon einmal gehört, dieses schrille Warnsignal. Rasch ging er neben dem Mann auf die Knie, und sein eigenes Herz schlug wie ein Hammer in seiner Brust, während er aufmerksam in das aufgedunsene Gesicht schaute. Vorsichtig nahm er ihn in die Arme und legte ihn auf dem Bürgersteig ab. Den Kopf stützte Alexej gegen sein Knie ab, um ihn vor den eisigen Klauen zu schützen, die sich sofort um einen Betrunkenen legten, wenn er auf gefrorenen Boden sank.
    Innerhalb des voluminösen Mantels war der Mann wenigstens so warm, wie es in einer kalten Moskauer Nacht eben möglich war, doch im Halbdunkel sah die Haut seines Gesichts noch grauer aus als das Pflaster unter ihm. Er hatte ein fleischiges Gesicht, mit vollen Lippen und einem dicken Schnurrbart, der in den Mundwinkeln sorgfältig nach unten gezwirbelt war. Alexej schätzte ihn auf etwa fünfzig. Schon jetzt wurden ihm die Beine taub auf dem Eis, und dem Mann musste es ähnlich gehen, doch es war niemand auf der Straße, den man um Hilfe bitten konnte. Und Alexej brachte es nicht über sich, ihn einfach zurückzulassen und selbst Hilfe zu holen, denn da war etwas an der Art, wie der Mann sich an ihn klammerte, die ihm zeigte, dass er Beistand dringend nötig hatte.
    Denk nach. Was geschah hier eigentlich? Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall?
    Er prüfte den Mund des Mannes. Die Kinnlade war steif, doch die Zunge war nicht nach hinten gerutscht, obwohl sich die Gesichtshaut kalt und klamm anfühlte. O Gott, stirb jetzt bitte nicht. Er knöpfte den Mantel auf und durchwühlte die Innentaschen. Zigarrenetui, Brieftasche, Schlüssel, Taschentuch, zusammengefaltetes Papier und – genau das, wonach er gesucht hatte – eine kleine Pillendose. Sie war warm vom Körperkontakt mit dem Besitzer. Alexej klappte den Deckel auf und sah, dass mehrere weiße Pillen darin lagen. Verdammt, das konnte alles Mögliche sein. Kopfschmerztabletten oder Abführmittel? Er nahm eine der Pillen heraus und schloss die Dose wieder.
    »Genosse.« Er sprach laut, als wäre der Mann taub. »Genosse,

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