Die Sehnsucht der Konkubine
unter seiner Berührung war.
»Aber du hast mich verlassen«, flüsterte sie.
Darauf hatte er keine Antwort.
SECHSUNDDREISSIG
L y dia kehrte auf Umwegen aus der Stadt zurück. Der Hof der kommunalka lag in tiefem Schatten, und während sie unter dem Torbogen hindurcheilte, brauchten ihre Augen einen Moment, um sich nach der hellen Straße an die Dunkelheit zu gewöhnen. Trotzdem entdeckte sie den Jungen sofort, der sich am Rande einer Gruppe von Hausbewohnern herumtrieb.
Was ihr jedoch sonderbar vorkam, war die Tatsache, dass im Hof Musik zu hören war. Eine Art kratzendes Dudeln, bei dem sie sogleich lächeln musste, weil es so komisch klang. Sie erkannte sofort, welches Instrument die Töne hervorbrachte. Ein Leierkasten. Das letzte Mal hatte sie an der Hand ihres Vaters einen solchen Leierkasten als Kind gesehen, doch die Erinnerung war verschwommen, und bevor sie sie wirklich zum Leben erwecken konnte, brachte ein lautes Krächzen, wie von einem Papagei, die Gruppe der Hausbewohner zum Lachen. Die Menschen rückten näher, und Lydia sah, wie auch der blonde Schopf des Jungen sich näherte, weiß wie Buttermilch. Ganz leicht streifte er dabei den Mann ganz hinten in der Menschenmenge, als wollte er nur eine bessere Sicht bekommen.
Lydia machte einen Schritt vorwärts, bekam einen Zipfel von Ediks schmutziger Jacke zu fassen und zog fest daran. Seine Füße gerieten auf dem Eis ins Rutschen.
»Nimm deine Finger weg …« Er fuhr herum, die Augen weit aufgerissen, und grinste, als er merkte, um wen es sich handelte. » Priwjet . Hallo.«
»Steck das zurück.«
Das Grinsen auf seinem Gesicht erlosch.
»Steck’s zurück«, wiederholte sie.
Einen Moment lang fochten sie einen stummen Kampf aus, dann ließ er die Schultern hängen, schlurfte zu dem Mann zurück und steckte das zurück, was er vorher entwendet hatte. Dabei wich der Junge Lydias Blick aus, doch sie packte ihn am Ärmel und zog ihn zurück zu dem Eingang, der zu ihrem Zimmer führte.
»Das ist schon besser«, sagte sie.
»Für dich?«
»Nein, Blödmann, für dich.«
Während sie die Treppe hochstiegen, erwähnte keiner von ihnen die Tatsache, dass sein Ärmel zerrissen war und in Fetzen zwischen ihren Fingern hing.
»Hier, gib ihr das.«
Lydia gab dem Jungen ein Stück kolbasa , doch obwohl er die Wurst entgegennahm, würdigte er sie keines Blickes. Er war wortlos in ihr Zimmer geschlüpft und hatte sich einen Platz auf dem Boden gesucht, mit dem Rücken an der Wand, wobei ihn selbst die begeisterte Begrüßung Mistys, die er hier zurückgelassen hatte, nicht zum Lächeln bringen konnte. Er brach ein Stück der Wurst ab und legte es dem kleinen Hund auf die Zunge, dann steckte er sich auch ein Stückchen in den Mund. Elena saß auf dem Stuhl und war mit irgendeiner Näharbeit beschäftigt, ein marineblaues Kleidungsstück über den Schoß gebreitet.
»Wurst ist zu gut für ihn«, brummte sie.
Lydia war sich nicht sicher, ob sie den Hund oder den Jungen meinte.
»Und worüber grinst du so?«, fragte Elena, an Lydia gerichtet.
»Ich?«
»Ja, du.«
»Nichts.«
»Die Art von Nichts, die ein Lächeln auf dein Gesicht zaubert, das so breit ist wie der Mond und dich schnurren lässt wie eine Katze?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Jetzt komm schon, Mädchen, du siehst aus wie eine Katze, die in einer Sahneschüssel gelandet ist.«
Der Junge lachte und blickte zu Lydia hoch, plötzlich interessiert. Lydia spürte, wie ihre Wangen zu brennen anfingen, ohne dass sie es verhindern konnte.
»Hat es mit deinem Bruder zu tun?«, drängte Elena sie. »Ist Alexej heute aufgetaucht?«
»Nein.«
»Was ist dann passiert?«
»Ich habe an der Kathedrale gewartet, aber …«
»Ich meine, was ist sonst passiert?«
Lydia blickte auf den Jungen hinab. Er und der kleine Hund schauten sie mit leuchtenden Augen an.
»Nichts«, meinte sie und untermauerte ihre Aussage mit einem Achselzucken. »Nichts weiter, Elena. Aber heute hoffe ich von dem Parteimitglied zu hören, mit dem ich bei dem Empfang im Metropol war. Er heißt Dmitri Malofejew. Erst als ich seine Frau gesehen habe, wurde mir bewusst, dass er früher Kommandant des Lagers von Trowitsk war, in dem mein Vater festgehalten wurde. Das bedeutet, er kennt die richtigen Leute, die man fragen muss.«
»Du glaubst, er wird dir helfen?«
»Ich hoffe.«
»Warum sollte er?«
»Weil …« Lydia warf dem Jungen einen verlegenen Blick zu und wandte sich dann wieder Elena zu. »Ich glaube, er
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