Die Sehnsucht der Konkubine
dass sie mich mag.«
»Ich denke eher, das Problem ist, dass sie dich zu sehr mag.«
Auf einmal sah er ganz scheu und klein aus. »Was meinst du damit?«
»Edik«, sagte Lydia sanft. »Ich glaube, du erinnerst sie an ihren toten Sohn.«
Der Leierkastenmann hatte zu spielen aufgehört, und auf einmal wirkte das Zimmer ganz leer. Langsam wurde das Licht von draußen so grau wie Mistys Fell. Edik war mit seinem Hund zusammengerollt auf dem Boden eingeschlafen, und obwohl der Welpe noch wach war, lag er ganz still da, ein gelbes Auge auf Lydia gerichtet. Als sie aufstand und zum Fenster hinüberging, um zuzuschauen, wie das viereckige Stück Himmel draußen sich von Blau zu Fliederfarben verfärbte und schließlich ganz mit den Dächern verschmolz, gab der Welpe ein tiefes Knurren von sich. Obwohl er nicht mehr als eine Hand voll kleiner Knochen und Milchzähne war, passte er bereits auf sein Herrchen auf, und das beruhigte Lydia. Sie war sich nicht sicher, warum ihr das so viel bedeutete, aber es war so.
Sie wollte allein sein, um nachzudenken, denn ihre Gedanken pochten in ihrem Schädel, als wollten sie heraus. Ich werde einen Weg finden. Das hatte Chang gesagt, als sie sich getrennt hatten. Ich werde einen Weg finden. Und sie glaubte ihm. Wenn Chang An Lo ihr versprach, er würde einen Weg finden, damit sie zusammen sein konnten – richtig zusammen sein, nicht bloß ein paar gestohlene Küsse wie heute –, dann würde er es auch tun. So einfach war das.
Sie erschauderte, nicht weil ihr kalt war, sondern ganz im Gegenteil. Das Blut in ihren Adern floss heiß und schnell, ihr Körper war ruhelos, und ihre Haut fühlte sich hungrig an. Sie sehnte sich nach seiner Berührung, so wie sie sich an einem heißen Sommertag auf dem Markt von Tschangschu nach einem Stück kühlendem Eis gesehnt hatte. Sie wollte bei ihm sein, wollte sein Gesicht sehen, wollte sehen, wie sich sein Lächeln ganz allmählich bis zu seinen Augen ausbreitete. Sie hatte gedacht, seine Küsse von heute könnten ihr genügen. Doch sie genügten nicht. Sie war gierig. Sie wollte mehr.
Sie ließ ihren Kopf gegen die Fensterscheibe sinken und seufzte. Sie hatte so lange in einem Zustand des Wartens verbracht, dass sie vollkommen vergessen hatte, wie es war, im Hier und Jetzt zu leben. Und das zu haben, was man sich wünschte. Und sich das zu wünschen, was man hatte.
»Chang An Lo«, flüsterte sie, als könnte er sie hören.
Sie berührte das Glas an der Stelle, an der ihr Atem es beschlagen hatte, und schrieb seinen Namen in den Dunst. Lächelnd betrachtete sie die sanft geschwungene Schrift, als könnte sie Chang allein dadurch herbeizaubern. Ihr Herz pochte heftig in ihrer Brust. Während sie den Namenszug betrachtete, begann ihr eigenes Spiegelbild darum herum Gestalt anzunehmen, die beiden Bilder verschmolzen, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Gesicht zu. Was sah Chang, wenn er sie anschaute? Das Haar, die Augen, die Wangenknochen, all das kam ihr unverändert vor. Doch war es denn das, was er sah? War das das Mädchen, in das er sich damals in China verliebt hatte? Oder jemand anders?
Und Kuan? Wie eine Spinne wich sie ihm nicht von der Stelle, bei keinem Schritt, den er tat, wie eine Einladung in Fleisch und Blut, die ihn in jedem Hotelzimmer erwartete, in dem er abstieg. Nein, das nicht. Denk nicht so.
Schick mir den Jungen. Das hatte er gesagt. Sie wandte sich vom Fenster ab und bemerkte, dass es in dem Zimmer fast vollkommen dunkel geworden war.
»Ihr esst zu schnell. Alle beide.«
Lydia saß auf dem Stuhl. Der Junge hockte immer noch auf dem Boden und stopfte sich Brot in den Mund, während neben ihm der Hund die Schnauze tief in eine Schüssel kascha gesteckt hatte. Keiner von beiden holte zwischendrin Luft. Sie hatte Edik ein wenig Suppe aufgewärmt und für Misty die Grütze, dann den schlafenden Jungen zwischen die Rippen gepiekst und die Schüsseln vor die beiden hingestellt. Edik war innerhalb eines Moments vom Tiefschlaf zum Essen übergewechselt. Er drückte sich die Schüssel fest an die Brust und ließ sie selbst beim Schlucken keinen Moment aus den Augen, ein Anblick, den Lydia beunruhigend fand.
»Edik«, sagte sie. »Was ist eigentlich mit deinen Eltern passiert?«
Er schlang noch zwei Mund voll Suppe hinunter. »Erschossen.« Er stopfte Brot hinterher.
»Das tut mir leid.«
»Vor vier Jahren.«
»Warum?«
Wieder wartete sie. Bedrängte ihn nicht.
»Sie haben ein Buch gelesen«, sagte er zwischen zwei
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