Die Sehnsucht der Konkubine
Bissen. »Ein Buch, das verboten wurde, weil es antisowjetisch ist.«
»Welches Buch?«
»Kann mich nicht mehr erinnern.«
Sie beließ es dabei.
»Lebst du seither auf der Straße?«
»Da.«
»Das ist hart.«
»Ist nicht so schlimm. Der Winter ist am härtesten.«
»Stehlen ist gefährlich.«
Zum ersten Mal hob er den Kopf, und in seine blauen Augen trat ein Leuchten. »Ich bin gut darin. Einer der Besten.«
Ich bin gut darin. Genau dieselben Worte hatte sie vor nicht allzu langer Zeit selbst gesagt. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an die Risiken.
»Wo verkaufst du denn deine Hehlerware?«
»Mach ich nicht.« Er bedachte sie mit einem verächtlichen Blick, als wäre sie blöd. »Das machen die wory .«
»Wer sind denn die wory ?«
Er rollte die Augen in einer übertriebenen Geste des Überdrusses, wischte sich mit der Hand den Mund ab und hielt sie dem Hund hin, damit er sie abschleckte.
»Da ist dieser Mann«, begann er langsam, als würde er zu einem Schwachsinnigen reden. »Der leitet eine Gruppe von uns Straßenkindern. Wir stehlen und geben die Sachen ihm. Er bezahlt uns dafür.« Der Junge dachte kurz über das nach, was er gerade gesagt hatte, und zog die Stirn in Falten. Fast hätte er auf den Boden ausgespuckt, aber er verkniff es sich. »Viel zahlt er allerdings nicht, der Scheißkerl. Bloß ein paar armselige Kopeken. Einige der anderen wory- Typen zahlen besser, aber ich muss nehmen, was ich kriegen kann.«
Lydia beugte sich vor. »Gibt es denn viele Jungs wie dich auf den Straßen von Moskau?«
»Klar. Tausende.«
»Und die gehören alle zu Banden, die von wory- Männern geführt werden?«
»Die meisten ja.«
»Und wer sind diese wory?«
»Kriminelle natürlich.« Er grinste und kraulte den Welpen hinter den Ohren. »So wie ich.«
»Edik, was du da machst, ist gefährlich.«
»Und das, was du machst, ist nicht gefährlich?« Er lachte, ein offenes Kinderlachen, bei dem sie lächeln musste.
Am liebsten wäre sie zu ihm hinübergegangen und hätte ihm einen Arm um seine mageren Schultern gelegt, hätte diesem abgebrühten kleinen Kerl die Umarmung geschenkt, nach der er sich so sehr zu verzehren schien, doch sie tat es nicht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, er würde sie noch einmal beißen, wenn sie das tat. Sie strich sich das Haar aus der Stirn, als könnte sie damit auch all die Zweifel aus dem Weg räumen, die sie hatte, wenn sie daran dachte, was sie ihn gleich bitten würde.
»Edik?«
»Ja?«
Sie griff in ihre Tasche, zog eine Zehnrubelnote heraus und wedelte damit in der Luft. Sein Blick folgte gierig dem weißen Geldschein, so wie Misty, wenn man ihr einen Hundekuchen vor die Nase hielt.
»Hier«, sagte sie, zerknüllte den Schein und warf ihn ihm zu.
Nur ein Blinzeln genügte, und er hatte ihn sich in die Tasche gesteckt.
Er grinste. »Und was jetzt?«
»Ich möchte, dass du noch mal zum Hotel Triumfal gehst und nach dem Chinesen vom letzten Mal Ausschau hältst. Er wird dir eine Nachricht für mich geben.«
»Ist das alles? Für dieses ganze Geld?«
»Pass auf dich auf, Edik.«
Er sprang auf, klemmte sich seinen neuen Mantel unter den einen Arm und den Hund unter den anderen. »Das Problem mit dir, Lydia« – diesmal war sein Lächeln schüchtern, doch es gelang ihm damit spielend, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken – »ist, dass du zu leicht zufrieden zu stellen bist.«
Sie lachte und spürte, wie ihre Schuldgefühle ein wenig an Gewicht verloren. »Und geh bloß nicht …«
Ein scharfes Klopfen an der Tür brachte sie zum Verstummen.
Es war Dmitri Malofejew. Er stand in seinem elegant geschnittenen Ledermantel in der Tür, einen weißen Seidenschal um den Hals. In einer Hand trug er eine große braune Papiertüte, in der anderen einen Blumenstrauß, bei dem es sich offenbar um Lilien handelte. Wo, um alles in der Welt, er mitten im Winter ein solches Mitbringsel herhatte, war Lydia vollkommen schleierhaft.
»Hallo, Lydia.«
»Genosse Malofejew, das ist eine Überraschung.«
»Darf ich hereinkommen?«
»Natürlich.«
Doch sie zögerte. Diesen Mann mit seinen glänzend gewienerten Schuhen und den blitzend weißen Zähnen hier hereinzubitten, kam ihr so vor, als würde sie ein Krokodil zu sich ins Bett lassen.
Sie lächelte ihn an, musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Komm herein.«
Er trat ein und erfüllte mit seiner männlichen Präsenz sogleich jeden Winkel des schäbigen Zimmers. »Hier hältst du dich also
Weitere Kostenlose Bücher