Die Sehnsucht der Konkubine
Mond, keine Sterne waren zu sehen. Hastig holte Lydia das Bündel unter ihrem Bett hervor und zog sich mehrere Schichten von Elenas Pullovern und Röcken über, eine über die andere, bis sie richtig dick und unförmig aussah. Erst dann war sie zufrieden.
Nun passte sie zwar nicht mehr in ihren eigenen Mantel, doch Elenas Mantel wollte sie auch nicht borgen. Stattdessen nahm sie ihre Decke vom Bett, legte sie sich wie einen Schal um den Körper und bedeckte damit auch Haar und Wangen. Darüber kam noch ein Kopftuch, das sie fest unter dem Kinn verknotete. Im Dunkeln war sie jetzt nicht mehr zu erkennen, und wenigstens diesen einen Moment lang fühlte sie sich frei. Sie hielt den Atem an, machte die Tür auf und schlüpfte aus dem Zimmer. Niemand würde sie draußen erkennen.
Nicht einmal Chang An Lo.
Sie huschte die Straße entlang, den Kopf gegen den Wind gebeugt. Die meisten Häuser waren in Dunkelheit gehüllt, weshalb sie sich besser auf den Weg konzentrieren konnte als auf ihre Angst, angehalten und befragt zu werden. Es war ein unebener Schotterweg mit einem Friedhof auf der einen Seite und einer Reihe von windschiefen Häusern auf der anderen. Eine sonderbare Duftmischung aus feuchter Erde, Schweinen und Holzfeuer lag in der Luft und erinnerte sie an den Geruch von chinesischen Dörfern, aber die Erinnerung brachte sie nicht zum Lächeln. Ihre Handinnenflächen waren trotz der Kälte feucht und klamm in ihren Handschuhen, und die Haut an ihrem Nackenansatz prickelte, als wären Hunderte kleiner Spinnen unter der Decke verborgen. Sie verlangsamte ihre Schritte und kam schließlich zum Stehen. Was war bloß los mit ihr?
Warum war sie so nervös? Warum zögerte sie?
Sie schloss die Augen. Die schwere Nachtluft drückte sie nieder, trotzdem spürte sie, während sie dort stand, wie die Wahrheit in ihr ans Licht kam. Sie hatte Angst. Sie hatte Angst, dass sie höflich zueinander sein würden.
Wie lang sie da stand, wusste sie nicht. Irgendwann schreckte sie das Geräusch von Schritten von der Straße auf, und einen Moment lang glaubte sie, Chang An Lo habe sie gefunden. Doch dann sah sie eine Fackel, die auf dem Schnee ihren unsteten gelben Schimmer warf. Nein, nicht Chang An Lo, er hätte keine Fackel verwendet. Gerade wollte sie die Straßenseite wechseln, um dem Unbekannten auszuweichen, als der Lichtkegel über sie hinwegwanderte und sie blendete. Sie hob eine Hand an die Augen, um sie abzuschirmen, und hörte schnelle Schritte, die auf sie zukamen, dann drückte sie jemand gegen die Wand, ihr Kopf traf auf etwas Hartes, Hände rissen ihr die Decke weg und machten sich grob an ihrer Kleidung zu schaffen. Nur die zahlreichen Schichten von Elenas ausladenden Kleidungsstücken schützten sie vor den suchenden Fingern ihres Angreifers. Sie holte mit der Faust nach seinem Kopf aus und hörte ihn vor Schmerz aufschreien. Sein Schädel war hart.
»Lass mich los«, schrie sie.
»Halt die Klappe, suka , Nutte.«
»Geh zum Teufel, du Scheißkerl.« Sie holte aus und traf ihn voll am Schienbein.
Eine Hand schlug sie flach und hart auf den Mund. Sie schmeckte Blut. Ein Mund, der nach Bier stank, presste sich auf den ihren. Wieder trat sie um sich, konnte jedoch nicht atmen. Ihr Arm wurde gegen ihre Luftröhre gedrückt, und das Gewicht des Angreifers presste sie an die Wand. Sie versuchte zu schreien. Spürte, wie ihr Gehirn knirschend zum Stillstand kam.
Und ganz plötzlich war es vorüber. Ohne ein weiteres Geräusch ließ ihr Angreifer sie los, als wäre er des Kämpfens überdrüssig geworden, und setzte sich auf einen Schneehaufen. Er wirkte erschöpft. Sie holte tief Luft.
»Scheißkerl!«, schnappte sie nach Luft und schlug nach seinem Rücken.
Ganz langsam, fast nachdenklich, fiel er vornüber aufs Gesicht und lag ausgestreckt neben der Fackel im Schnee, den Hals in einem seltsamen Winkel verdreht. Erst da sah sie die andere Gestalt, ein Gesicht voller Erhebungen und Schatten, als wäre ein Geist aus dem gegenüberliegenden Friedhof erschienen.
»Chang An Lo«, keuchte sie.
»Komm.«
Er packte sie am Handgelenk und zog sie von der zusammengebrochenen Gestalt weg, wobei er auf der dunklen Straße so schnell ging, dass sie kaum mithalten konnte. Sie blickte hinter sich, doch ihr Angreifer hatte sich nicht bewegt. Die Nacht schien immer dichter und undurchdringlicher zu werden. Als sie zu einer beschlagenen Tür kamen, zog er einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Die Tür
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