Die Sehnsucht der Konkubine
öffnete sich mit einem lauten Quietschen in den Angeln, dann waren sie drinnen. Im Flur herrschte Finsternis, doch sie hörte ihn atmen. Und Lydia war sich sicher, dass auch er ihren Atem hören konnte, angestrengt und noch immer nicht im Takt.
Ohne zu zögern bewegte er sich durch die Dunkelheit und zog sie mit sich eine Treppe hoch, bis sie im ersten Stock vor einer Tür standen. Er schloss sie auf, führte sie hinein und machte die Tür hinter ihnen zu.
»Warte hier«, flüsterte er.
Er verschwand, und einen Moment später brannte ein Zündholz. Changs Gesicht leuchtete in der Dunkelheit. Er steckte eine Gaslampe an, die von der Decke hing, und stellte die Höhe der Zündflamme ein. Sie hörte, wie die Flamme zischend zum Leben erwachte, und sah den warmen, gelben Schein, der sich langsam in den Raum ergoss. Sie stieß den Atem aus. Es war nur ein kleines Zimmer mit einem Bett, einem Lehnstuhl und einem Nachttischchen. Überraschenderweise hing ein Kruzifix an der Wand. Doch mehr Platz brauchten sie nicht.
Er trat auf sie zu, seine Augen dunkel und lebhaft. Aber sie kannte ihn zu gut. An dem unruhigen Mahlen seiner Kiefer und der weichen Linie um seinen Mund sah sie widergespiegelt ihre eigene Unsicherheit. Sie holte tief Luft, schlang die Arme um seinen Hals, und dann lagen seine Hände auf ihrem Rücken, sie umfassten sie, streichelten sie, fanden unter all den dicken Kleiderschichten ihre wahre Gestalt.
»Mein Geliebter«, murmelte sie und hob ihm ihre Lippen entgegen.
Als sich ihre Münder begegneten, hart und fordernd, spürte sie, wie sich die zarte Schranke zwischen ihnen hob. Sie hörte es krachen, als sie zerbarst, und dann wusste sie, dass es keine Höflichkeit zwischen ihnen geben würde.
ACHTUNDDREISSIG
M an nahm Alexej die Augenbinde ab. Er musste heftig blinzeln, bis sich seine Augen an die plötzliche Lichteinstrahlung gewöhnt hatten, und schaute sich in der Umgebung um. Er befand sich in einem unterirdischen Weinladen. An den Steinmauern waren Flaschen in allen Größen und Formen in Regalen gelagert, und die Luft war so staubig, dass ihm der Atem stockte.
»Wer ist das?«
»Warum hast du ihn zu uns gebracht, Igor?«
Die Fragen kamen von einer Gruppe von etwa zwanzig jungen Männern, die sich in dem Kellerraum versammelt hatte. Ein jeder von ihnen trug sein Hemd bis zur Taille aufgeknöpft. Tätowierungen bedeckten ihre nackten Brustkörbe, scharf gestochene Botschaften an die Welt, und darüber sah man hagere Gesichter und scharfe, misstrauische Augen. Keiner der Männer lächelte oder grüßte ihn. Mist, dachte Alexej, das alles sah nach einem großen Irrtum aus …
»Guten Abend, Genossen«, sagte Alexej freundlich. Er nickte zum Gruß und versuchte, den Blick von den Tätowierungen abzuwenden, was ihm nicht leichtfiel. »Mein Name ist Alexej Serow.«
Er stellte den Sack, den er mitgebracht hatte, auf dem Boden vor ihnen ab, wo Staub die schwarzen Fliesen bedeckte. Einer der Männer mit Flüsterstimme und öligem, sorgfältig in der Mitte gescheiteltem Haar trat nach vorne und entknotete die Schnur, mit der der Sack zugebunden war. Er hob den Inhalt des Sacks heraus. Sofort löste sich die Anspannung im Raum.
Es war ein leichter Diebstahl gewesen, doch Alexej hatte ihn nur mit Widerwillen begangen. Mit Abscheu. Aber Maxim Woschtschinski hatte es von ihm verlangt, als Beweis seiner Treue und als Demonstration seines Mutes. Ein Geschenk an die wory. Ohne zu zögern hatte Alexej Ja gesagt und sich auch keine Zeit gelassen, seine Meinung zu ändern. Noch am selben Abend war er auf die Straßen von Moskau hinausgegangen, um den wory zu beweisen, dass er ihr Vertrauen verdiente, dass er ebenso ein Dieb war wie sie und keine Angst vor den staatlichen Behörden hatte. Er hatte sich zwei Stunden auf Seitenstraßen herumgetrieben und mit der gleichen Präzision, mit der er früher militärische Manöver vorbereitet hatte, nach einer Gelegenheit gesucht. Und als die Gelegenheit kam, hatte er sie beim Schopf ergriffen.
Er war dem Licht gefolgt, das aus einer offenen Tür auf die schmale Gasse fiel, und ganz leise in einen fremden Flur getreten. Das hatte genügt, um ihn zum Dieb zu machen, die Grenzen des Anstandes zu überschreiten und auf die andere, die gesetzlose Seite der Welt überzuwechseln. Seine Hände hatten mit einer solchen Selbstverständlichkeit gestohlen, als wären sie seit Jahren in Übung, und die geschnitzte Uhr von der Wand sowie eine kleine Zinnvase von einem Tisch
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