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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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Luft, um sein aus dem Takt geratenes Herz zu beruhigen. Vor ihnen fiel der Berg steil zu der schmalen Wasserfurche hinab und erhob sich auf der anderen Seite wieder zu einer nackten, finsteren Felswand. Weder Dörfer noch Wagenspuren waren zu sehen, selbst wilde Ziegen ließen sich hier nicht blicken. Da war bloß diese leere, felsige Landschaft, in Eis gehüllt wie in ein Gespinst, und die doppelte Schlange aus silbrigem Metall, die das Tal dort unten durchschnitt. Die Eisenbahnlinie.
    Einen kurzen Moment lang gestattete er sich die Frage, wie viele Menschenleben die Verlegung dieser Schienen gekostet hatte, wie oft Menschen unter Felsbrocken begraben worden waren und sich diese Schienen von Menschenblut rot verfärbt hatten. Es waren die fanqui, die ausländischen Teufel gewesen, die diesen Pfad mit Dynamit durch das Tal gesprengt hatten. Sie hatten China überrumpelt, indem sie ihre metallenen Wege verlegten, ohne auf die Stimme des Landes selbst zu hören, denn ihre großen Elefantenohren waren taub für die Geister des Berges.
    Zuerst hatten die Europäer in ihren Uniformen das Land überschwemmt, waren wie die Fliegen über den gelben Staub ausgeschwärmt, doch jetzt hatte die nationalistische Armee dieses eitlen Pfaus Tschiang Kai-schek ihre Rolle übernommen. Er zog dem chinesischen Volk alles, was es besaß, unter den Füßen weg, sogar das Gras auf seinen Wiesen und die grünen Sprösslinge seiner Reisfelder. Chang An Los Herz litt mit diesen Menschen und mit dem weiten und schönen Königreich der Mitte.
    »Kuan«, sagte er und schmeckte Eis auf seinen Lippen. »Nimm Kontakt zu Luo auf und dann zu Wang. Sag ihnen, sie sollen die Sprengladung anbringen.«
    Die junge Frau ließ die schlammfarbene Leinentasche von ihrer Schulter zu Boden gleiten, löste die Schnallen und begann sich mit kundiger Hand an den Schaltern zu schaffen zu machen. Kuan war in Peking als Anwältin ausgebildet worden, aber jetzt arbeitete sie als Funkerin, und es war ihre Aufgabe, die verschiedenen kommunistischen Kader ständig über diese Mission auf dem Laufenden zu halten. Sie arbeitete schnell und ohne großes Gewese. Das gefiel Chang und machte sie zu einer angenehmen Wegbegleiterin. Er vertraute ihr. Ihre einzige Schwäche war ihr geringes Durchhaltevermögen in den Bergen.
    Während sie in den Hörer sprach, schloss er die Augen und ließ seine Gedanken schweifen. Er wandte das Gesicht gen Norden, reckte es dem scharfen Wind entgegen, der aus Sibirien wehte, sog ihn in seine Lunge und ließ ihn seine scharfen Fänge tief in sein weiches Inneres schlagen.
    War sie dort, seine Füchsin? Irgendwo auf der anderen Seite der Grenze, in jenem fremden Land?
    Konnte er sie schmecken in dem russischen Wind? Sie riechen? Konnte er ihr glockenhelles Lachen hören?
    Ihren Namen würde er nicht aussprechen, nicht einmal denken würde er ihn. Aus Angst davor, dass auch nur ein Flüstern sie schon verraten und den Zorn der Rachegeister auf ihren leuchtenden, kupferfarbenen Schopf herabbeschwören würde. Denn sie hatte den Göttern etwas gestohlen, und das würden sie ihr nicht verzeihen.
    »Es ist Zeit«, sagte er mit einer Plötzlichkeit, die Kuan überraschte.
    »Jetzt?«, fragte sie.
    »Jetzt.«
    Rasch schloss sie die Schnallen der Leinentasche, doch noch ehe sie damit fertig war, hatte Chang bereits mit dem Abstieg begonnen.
    Tod. Er schien ihn zu verfolgen. Oder war es umgekehrt?
    Überall um ihn herum lagen zerfetzte menschliche Körper, Arme und Beine und Rümpfe, zu schlaffen Klumpen aus Fleisch und Knochen zerrissen, die die Krähen anzogen, noch bevor sie erkaltet waren. Der Kopf eines junges Mannes, das schwarze Haar blutüberströmt, ein Auge aus der Höhle gerissen, lag etwa zehn Meter von der Unglücksstelle auf einem Felsen und starrte Chang direkt an. Ein Kopf, kein Körper. Chang spürte, wie der Finger des Todes nach seinem Herzen griff, bis ihn schauderte, und er drehte sich um und ging an dem in die Luft gejagten Zug entlang. Glassplitter knirschten unter seinen Füßen.
    An beiden Enden des Zuges waren Waggons durch die Explosionen zerschmettert worden, eine verschlungene Masse aus verbogenem Metall und Holz. Menschen waren herausgeschleudert worden und lagen auf dem vereisten Boden verstreut wie die Köderbrocken einer Wolfsfalle. Während Chang an dem blutigen Gemetzel vorüberging, verhärtete er sein Herz gegen die Schreie, die zu hören waren, und er rief sich ins Gedächtnis, dass diese Männer seine Feinde waren,

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