Die Sehnsucht der Konkubine
flüssig und geschmeidig wie das pechschwarze russische Öl, und auch wenn er Englisch so elegant sprach wie ein vornehmer Gutsherr, kam ihm kein einziges Wort dieser Sprache über die Lippen.
Lydia hatte ihn verflucht. Auf Englisch. Auf Russisch. Auf Chinesisch.
»Du Mistkerl, Alexej. Dir macht das Spaß. Hilf mir dieses eine Mal, bitte.«
»Njet.«
»Verflucht noch mal.«
Dann hatte er dieses Lächeln aufgesetzt, das sie stets wütend machte, und dabei zugesehen, wie sie sich abmühte, wieder und wieder. Es war ein schwerer Anfang für sie gewesen, denn die Tatsache, dass ihr die Worte fehlten, hatte sie einsam gemacht, aber jetzt musste sie notgedrungen zugeben, dass er Recht gehabt hatte. Sie hatte schnell gelernt und genoss es mittlerweile sogar, die Sprache zu benutzen, die ihre russische Mutter sich geweigert hatte, ihr beizubringen.
»Russisch?«, hatte Valentina damals oft in ihrer chinesischen Dachkammer gesagt, eine finstere Miene auf dem fein geschnittenen Gesicht, die dunklen Augen voller Verachtung. »Wozu soll Russisch jetzt gut sein? Russland ist am Ende. Schau dir doch bloß an, wie diese mordlustigen Bolschewiken mein armes Land in den Ruin treiben und es ausziehen bis aufs letzte Hemd. Ich sag dir, malyschka, vergiss Russland. Englisch ist die Sprache der Zukunft.«
Und mit diesen Worten warf sie ihr langes, seidiges Haar in den Nacken, als wollte sie mit dieser einen schwungvollen Bewegung auch all die russischen Worte aus ihrem Kopf schütteln.
Doch jetzt, in diesem kalten, miefenden Zug, der sich ratternd seinen Weg durch die große Ebene Nordrusslands in Richtung Felanka bahnte, hortete Lydia all diese Worte in ihrem Kopf wie einen Schatz und freute sich, als sie hörte, wie die Frau gegenüber von ihr sie fragte: »Aus welchem Teil Russlands stammst du?«
»Ich komme aus Smolensk«, log sie und sah, wie die Frau zufrieden nickte.
»Ja, aus Smolensk«, wiederholte Lydia, und irgendwie gefiel ihr der Klang dieser Worte.
VIER
China 1930
I n der Höhle war es kalt. So kalt, um den Atem der Götter gefrieren zu lassen, aber die Höhle war nicht tief genug, um das Risiko einzugehen, ein Feuer zu machen. Chang An Lo hockte am Eingang zu der Grotte, mucksmäuschenstill wie einer der grauen Felsen, die überall in der kargen Berglandschaft ringsum herumlagen. Keine Bewegung. Nichts. Bloß Grau vor dem erbarmungslosen Grau des Winterhimmels. Nur eine dünne, pulvrige Schneeschicht löste sich wirbelnd vom gefrorenen Geröll und bildete beißend kalte Eisnadeln in der Luft, die in seinen Wimpern hängen blieben und die Haut seiner Lippen reizten, bis sie bluteten. Doch das merkte er gar nicht. Hinter ihm rann Wasser über die mit Flechten bedeckten Wände, ein wisperndes, trügerisches Geräusch, das tiefer in sein Denken eindrang als die Kälte.
Stähle deinen Verstand.
Die Worte von Mao Tse-tung. Von ihrem neuen, charismatischen Anführer, der in der Kommunistischen Partei Chinas die Macht an sich gerissen hatte.
Chang blinzelte, um die Eiskristalle von seinen Wimpern zu schütteln, und spürte, wie Wut in seinen Därmen rumorte. Konzentrier dich. Er gab sich Mühe, sein Denken zur Ruhe zu bringen, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag.
Sollte doch dieser Abschaum von Tschiang Kai-scheks Armee erfahren, was er für sie bereithielt, sollten sie doch entdecken, was sie unten im Tal auf den Bahngeleisen erwartete. Wie ein Alligator, der im großen Jangtse-Fluss auf seine Beute wartet. Ungesehen. Ungehört. Bis seine Fänge dich zerfleischen.
Chang bewegte sich. Es war kaum mehr als ein winziges Zucken seiner behandschuhten Hand, genügte jedoch, um eine schlanke Gestalt aus der Einbuchtung zu locken, die Wind und Regen aus dem Felsen gefräst hatten. Wie Chang trug auch die andere Person eine schwere Mütze und einen wattierten Mantel, der jegliche Körperform verbarg, weshalb nur aus der weichen Stimme, die an sein Ohr drang, zu schließen war, dass es sich bei seinem Gefährten um eine Frau handelte. Sie ging neben ihm in die Hocke. Ihre Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Katze.
»Kommen sie?«, flüsterte sie.
»Die Schneeverwehungen in den Tälern werden dazu geführt haben, dass sich der Zug verspätet. Aber er kommt, ganz bestimmt.«
»Können wir da sicher sein?«
»Stähle deinen Verstand«, sprach Chang mit den Worten seines Anführers.
Seine scharfen Augen schweiften über die gebirgige Landschaft, die sie umgab. China war ein unerbittliches Land,
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