Die Sehnsucht der Konkubine
wurde weich, und er gluckste zufrieden. »Ich hab einen Sohn, Georgi. Er ist fünf.«
»Siehst du ihn manchmal noch?«
» Da . Einmal im Monat fahre ich mit dem Zug nach Leningrad. Dort lebt er. Jetzt, da ich hier in Moskau wohne, ist es besser geworden. Als ich noch in Sibirien stationiert war, habe ich ihn nur zu Ostern gesehen.«
Sibirien. Jens betrachtete seinen Bewacher und war erstaunt darüber, dass er diesem Mann ohne Wut begegnen konnte. Vielleicht war das ein notwendiger Teil des Prozesses, nämlich seiner Rückkehr zur menschlichen Rasse. Es war eine Ironie des Schicksals, aber Babitski erkannte ihn nicht. Jetzt, da Jens wohl genährt und rasiert war und eine randlose Brille trug, die er für die Nähe brauchte, erinnerte sich der Wärter nicht an ihn. Jens hingegen erinnerte sich an Babitski sehr wohl, und wie er sich an ihn erinnerte. Im Lager von Trowitsk war Babitski bei Weitem nicht so höflich gewesen. Damals hatte er eine besondere Neigung dazu gehabt, die Mündung seines Gewehrs Gefangenen zwischen die mageren Schulterblätter zu stoßen.
»Friis«, Babitski beugte sich zu ihm. »Ich mag es, dass du mich nicht so anschaust, als wäre ich ein Stück Scheiße an der Sohle deines Stiefels, so wie es einige der anderen Wissenschaftler tun.«
Jens schaute ihn verblüfft an.
Babitski senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Vorgestern habe ich etwas gehört, etwas, das dich vielleicht interessieren könnte.«
»Und zwar?« Jens steckte sich wieder das Ende seines Füllers in den Mund.
»Sie überlegen, ob sie nicht ein neues Team heranziehen sollen, um das Projekt endlich zum Abschluss zu bringen. Ich weiß ja nicht, was ihr da eigentlich macht, aber einige von denen da oben denken offenbar, ihr erfüllt nicht die Aufgabe, für die man euch hierhergebracht hat. Ihr seid also aus dem Spiel.«
»Nein.«
»Doch. Pass also auf, was du tust.«
Jens erstarrte. Seine Gesichtsmuskeln schmerzten, so fest hatte er auf den Füller gebissen. »Wer hat das gesagt?«
»Oberst Tursenow.«
»Nein«, sagte Jens wieder. »Das kann er nicht machen.«
»Sei nicht blöd, Friis. Natürlich kann er das.«
»Aber es ist unser Entwurf, es ist das Ergebnis der ganzen harten Arbeit, die dieses Team geleistet hat, all der sorgfältigen Berechnungen und Überlegungen, all unserer Erfolge und, ja, auch unserer Rückschläge. Das kann er nicht einfach wegnehmen, das ist …« Seine Stimme klang auf einmal sehr erregt, doch er konnte sich nicht bremsen. »Es ist mein Projekt.«
Jetzt waren die Worte heraus. Er konnte sie nicht mehr zurücknehmen.
Babitski warf ihm einen Blick zu, der klar und deutlich die Grenzlinie zwischen Gefangenem und Wärter wiederherstellte. »Friis, was auch immer du und das Team hier machen, es gehört mit Sicherheit nicht euch. Es ist ein Projekt des sowjetischen Staates. Es ist Stalins Projekt. Glaub also nicht, bloß weil du deine grauen Zellen einsetzt, hättest du auf einmal irgendwelche Rechte hier. Die hast du nicht. Du bist immer noch ein Niemand, eine Unperson. Ein Gefangener. Vergiss das nie.«
Der große Wärter verließ die Werkstatt und knallte genüsslich die Tür hinter sich zu. Der Schlüssel knirschte im Schlüsselloch, als er ihn herumdrehte.
VIERZIG
L y dia verließ das Haus in aller Frühe, als Liew und Elena noch schliefen. Sie wollte Zeit für sich, sie brauchte Platz zum Atmen und Raum, um über Chang nachzudenken. Allerdings konnte sie ebenso wenig geradlinig denken, wie sie auf den Bürgersteigen dieser Stadt wegen des Eises geradeaus gehen konnte. Doch sie dachte nicht an Chang, sie war er. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Sie war ein Teil von ihm, so wie er ein Teil von ihr war. Schon jetzt vermisste sie sein körperliches Gewicht, wenn er auf ihr lag, und die Berührung seiner Haut auf der ihren.
»Nein, Elena, du täuschst dich«, flüsterte sie beim Gehen vor sich hin. »Ich würde Chang mein Leben anvertrauen, zehnmal und mehr.«
»Führst du Selbstgespräche?«
Es war Edik. Er hatte sich von hinten an sie herangeschlichen, als sie die Straße überquerte, und ging jetzt neben ihr her. Wie üblich hatte er sich den kleinen Hund auf die Brust gebunden, und der runde Kopf des Welpen lugte aus dem Beutel heraus.
»Soll ich wieder eine Nachricht für dich überbringen?«, fragte er.
»Nein, heute nicht. Aber danke trotzdem.«
Edik sah enttäuscht drein. »Wo gehst du dann hin?«
»Ich will mich für Brot anstellen.«
»Kann ich
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