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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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die in ihr herrschte, seit sie ihre Tochter in der Bleimine zurückgelassen hatte.
    »Ich bete jede Nacht, Jens«, hatte sie ihm eines Tages verraten, als sie zusammen an der Neuausrichtung eines Gaszylinders gearbeitet hatten, »dass meine Valeria bei einem Einsturz in der Grube zu Tode kommt. Das passiert oft, Tonnen von Gestein brechen einfach mit einem gewaltigen Krachen über dir zusammen, als würde ein Zug in einen Tunnel fahren. Rumms, und alles ist vorbei. Es wäre schnell vorüber. Aber dann hasse ich mich dafür. Was ist das für eine Mutter, die sich etwas Derartiges für ihre Tochter wünscht?«
    Er hatte einen Moment lang ihre Hand gestreichelt. »Eine, die sie liebt.«
    Ihre Träne war auf die Blaupause vor ihnen gefallen, und noch bevor einer ihrer scharfäugigen Bewacher es bemerken konnte, hatte er sie weggewischt und dabei die Tinte verschmiert. Der winzige Tropfen salziger Flüssigkeit hatte sich warm und vertraut auf seiner Haut angefühlt, und er hatte sie nicht abgewischt, sondern stattdessen trocknen lassen.
    Am Anfang hatten sich ihre Wege nur selten gekreuzt, obwohl sie sich unweigerlich morgens und abends zur halbstündigen körperlichen Ertüchtigung auf dem Gefängnishof trafen, wo die Gefangenen bei jedem Wetter, ob bei Regen, Wind oder Schnee, marschieren mussten. Doch während das Projekt voranschritt, hatten sie immer öfter zusammengearbeitet, manchmal drei oder vier Mal im Monat, und jetzt trafen sie im Hangar alle paar Tage aufeinander, und er hatte sich bei einem Gefühl ertappt, das er seit vielen Jahren nicht mehr empfunden hatte: Vorfreude.
    Im Lager hatte er von Moment zu Moment gelebt, weil es die einzige Möglichkeit war zu überleben. Denk niemals an morgen und an all die anderen Morgen. Niemals. Das war die wichtigste Regel. Doch jetzt musste er feststellen, dass er manchmal sogar einen Blick in die Zukunft wagte, wenn auch nur vorsichtig. Das alles war so neu für ihn. Er hatte gedacht, er habe vergessen, wie das ging. Für Vorfreude auf etwas, auf irgendetwas, benötigte man eine lächerliche Menge Mut. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, sich darauf zu freuen, eine Freundin auf der Ladefläche eines schwarzen Lastwagens wiederzusehen.
    Jetzt jedoch waren ihm seine Gedanken in ihrem Eifer einfach davongelaufen, und das machte ihn nervös. Als nun die Tür zu seiner Werkstatt mit einem Knall aufflog, empfand er es deshalb fast als Erleichterung.
    »Ach, Genosse Babitski, komm zu mir.«
    Der Wärter trat zu ihm an den Tisch, seine Stiefel quietschten auf dem Linoleumboden. Er legte eine Rolle Planskizzen auf den Tisch, wobei er sie mit dem größten Respekt behandelte. Babitski war ein großer, schlaksiger Mann, gut aussehend mit einem dicken blonden Haarschopf, hatte dabei jedoch den leicht verwirrten Gesichtsausdruck eines Menschen, der nicht immer genau weiß, wo es langgeht. Er war erst kürzlich zum Wachpersonal gestoßen, und Jens beobachtete mit Interesse, dass er bislang noch nicht seine Ehrfurcht vor dieser Versammlung beeindruckender Geistesgrößen abgelegt hatte.
    »Von wem sind sie denn diesmal, Genosse Babitski?«
    »Einheit vier.«
    »Aha, die Streithähne.«
    »Gefangener Elkin und Gefangener Titow. Sie reden nicht miteinander.«
    Jens stützte die Ellbogen auf den Tisch und kaute am Ende seines Füllfederhalters. Es bereitete ihm eine solche Freude, nach all den Jahren ohne Schreibwerkzeug wieder einen Füller in Händen zu halten, dass er ihn nicht mal einen Moment lang ablegen wollte. Eine Zeit lang hatte er sogar mit einem geschlafen, fest in seiner Faust verborgen, quasi als Talisman gegen seine Alpträume.
    »Du musst verstehen«, sagte er, »dass Wissenschaftler und Ingenieure sich gerne in die Haare kriegen. So schärfen sie gegenseitig ihren Verstand.«
    »Dann müssen der Gefangene Elkin und der Gefangene Titow aber einen messerscharfen Verstand haben.«
    Jens lachte. »Haben sie auch.«
    Er dachte wieder an das Lager zurück, und daran, wie das Leben dort ihren Verstand ausgehungert hatte. Mit dem körperlichen Hunger hatte er gelernt umzugehen, doch die totale Leere im Kopf war für ihn eine Form von Tod. Zwölf Jahre lang hatte sein Verstand im Sterben gelegen.
    »Sag mir, Babitski, bist du verheiratet?«
    »Ich war es«, erwiderte der Wachsoldat brummig.
    »Was ist passiert?«
    »Das Übliche. Sie hat mit unserem Nachbarn, einem Metallarbeiter aus Omsk, angebandelt und ist mit ihm durchgebrannt.«
    »Habt ihr Kinder?«
    Sein großes Gesicht

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