Die Sehnsucht der Konkubine
mitkommen?«
»Natürlich.«
Sie war sich nicht sicher, ob ihm an ihrer Gesellschaft etwas lag oder an dem Brot. Doch beides war in Ordnung für sie. Sie gingen zusammen an einer Reihe von Geschäften entlang und genossen den hellen Morgensonnenschein, obwohl noch dick Schnee lag. Sie bemerkte, dass er vor Energie fast zu platzen schien und seine Blicke schweifen ließ. Es waren seine Augen, fand sie, die ihn verrieten. Er hatte die Augen eines Diebes. Irgendwann musste sie ihn warnen, aber jetzt war nicht der richtige Moment dafür.
»Ist dir nun wärmer in deinem neuen Mantel?«, fragte sie.
Er grinste. »Ist in Ordnung.«
»Du musst Elena danken.«
»Wenn ich ihr nett danke, meinst du, sie macht mir wieder mal pelmeni ? Und kocht eine Wurst für Misty?« Er blinzelte ihr verschmitzt zu. »Denn wenn sie es nicht macht, brauche ich mich mit großen Dankesbezeugungen gar nicht aufzuhalten.«
Lydia lachte und legte ihm einen Arm um die mageren Schultern. Zu ihrer Überraschung schüttelte er sie nicht ab.
Alexej spürte, wie das Sonnenlicht warm auf seiner Haut lag. Er stand auf der Treppe der Christ-Erlöser-Kathedrale und genoss den Moment der Stille. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden war es alles andere als still um ihn gewesen. O Mann, was tat ihm von der vergangenen Nacht der Kopf weh! Zu viel Wein und zu viele Zigaretten. Er schloss die Augen. Minuten vergingen. Er dachte über Jens Friis nach und schickte ein kleines Gebet zu Gott, an den er eigentlich gar nicht glaubte. Lass ihn am Leben sein. Ganz gewiss würde Gott ihn hier auf den Stufen dieses herrlichen Gotteshauses erhören, wenn er denn da drinnen war.
»Hallo, Alexej. Hast du es endlich hierhergeschafft.«
Er machte sich gar nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. Die Stimme, die er gehört hatte, konnte nur aus seinem Inneren kommen, doch sie war so real, dass er lächelte, während er sich den neckischen Blick dazu vorstellte, mit dem sie ihre Worte so oft begleitet hatte.
»Alexej?«
Eine Hand berührte ihn am Arm. Irgendetwas rastete in ihm ein. Ihm wurde bewusst, dass er dabei gewesen war, im Stehen einzuschlafen, wie ein müdes Pferd, und machte mit Mühe die Augen auf. Da stand sie, direkt vor ihm, hielt ihn mit der Hand auf seinem Arm aufrecht, und auf einmal hatte er den Eindruck, dass sie schwankte. Oder schwankte er?
»Alexej«, sagte sie leise und küsste ihn auf die Wange.
Er spürte die Wärme ihres kleinen Armes, mit dem sie sich bei ihm eingehängt und ihn in Richtung Straßenbahn geführt hatte. Die Bahn war überfüllt, voller Menschen, eingemummelt in fufaikas , Schals und Mützen, trotzdem erkämpfte sie einen Platz für ihn. Sie stand neben ihm, hielt sich an einem Griff fest, und er hatte das sonderbare Gefühl, dass sie ihn beobachtete.
Die Fenster waren beschlagen, weshalb er keine Ahnung hatte, wohin sie fuhren. Jedes Mal, wenn die Türen aufgingen, konnte er wieder einen Blick auf eine Straße erhaschen, die er nicht kannte, Menschen stiegen ein und aus, aber was ihn noch mehr aus der Fassung brachte, war die Umsicht, mit der Lydia ihn vor Stößen und Schubsern der anderen Fahrgäste schützte, und wie oft sie ihm Blicke zuwarf. Diese Blicke waren so aufmerksam, so voller Zärtlichkeit, die er noch nie an seiner Schwester gesehen hatte. Woher kam dieses Gefühl? Wo waren denn die Funken und das Feuer und die Ungeduld, die er sonst an ihr kannte? Ihre Sorge bekümmerte ihn. Sah er wirklich so schlecht aus? Musste er wirklich wie ein krankes Kätzchen gehätschelt werden?
»Zeit zum Aussteigen, Alexej.«
»Richtig«, sagte er, blieb aber sitzen.
Sie schrie ihn weder an, noch schimpfte sie ihn einen Faulpelz, womit er fast gerechnet hatte. Stattdessen beugte sie sich zu ihm herab, lächelte ihm ins Gesicht, legte die Hände unter seine Achseln und hob ihn so mit sich hoch, als sie sich aufrichtete. Ihm war es peinlich. Wahrscheinlich roch er nicht besonders gut.
»Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen«, erklärte er.
»Und seit wie vielen Tagen hast du nichts mehr gegessen?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete er und kam sich dabei dumm vor.
Sie hielt seine Hand und half ihm beim Aussteigen aus der Straßenbahn. Draußen war die Luft frisch, es war hell, und er fühlte sich sogleich wacher.
»Alexej«, sagte Lydia, »wie bist du denn in solche Schwierigkeiten geraten?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich bin vom Weg abgekommen.«
»Na, dann schauen wir mal, ob wir gemeinsam den Weg nach Hause
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