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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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in dem schummrigen Raum voller toter Dinge. Ohne auf irgendjemand anderen zu achten, richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihren Bruder.
    »Alexej«, sagte sie entschlossen und hielt ihm eine schmale Hand hin. »Ich bin gekommen, um dich mit nach Hause zu nehmen.«

ZWEIUNDVIERZIG

    D er Lärm. Die Hitze. Das laute Knallen der Bleche, das Knirschen der Maschinen. Das Klappern und Rasseln der Hubketten. Das alles stürmte mit lautem Getöse auf Chang ein. Wie die Götter, wenn sie vor Wut mit den Füßen aufstampften, wenn sie ihren heißen Atem in seinen Schädel bliesen, bis er sich entzündete und zu Asche verglühte.
    Wie konnte ein Mensch das bloß aushalten?
    Das klaffende Maul des Hochofens warf Blasen auf der Haut und verwandelte die Gesichter der Arbeiter in scharlachrote Fratzen von Dämonen, wann immer die weißglühenden Metallbleche in Stellung gebracht wurden. Zangen und Bohrer und Dampfhämmer schlugen einen ohrenbetäubenden Takt in der Stahlfabrik, ein infernalischer Lärm, von dem Chang wusste, dass er auch in seinem eigenen Land ertönen musste, wenn es jemals Fortschritte machen sollte. Stalin war dabei, Russland zur Weltmacht zu machen. Industrieller Fortschritt war das, wonach China lechzte; in der Mechanisierung lag die Zukunft. Doch war Mao Tse-tung der Mann, der das Land wirklich in diese Zukunft geleiten würde? Noch immer führte er Krieg, noch immer war er mit der Erfüllung seiner privaten Freuden beschäftigt. Das bedeutete, dass China warten musste, und wenn es eines gab, das das chinesische Volk in Vollendung beherrschte, so war es Geduld. Ihr Tag würde schon noch kommen.
    Die Delegation bewegte sich hinter ihrem russischen Führer durch die Fabrik. Chang sah deutlich die übergroße Ehrfurcht in den Augen seiner Begleiter ob des Ausmaßes der Metallproduktion. So wie es auch beabsichtigt war. Sie standen in einer Gruppe zusammen und sahen einem Mann dabei zu, wie er eine Lochstanze bediente, eine wuchtige, dampfbetriebene Faust, die auf ein Blech nach dem anderen hinabdonnerte und einen großen Kreis ausstanzte. Wozu er diente, davon hatte Chang keine Ahnung, und es war zu laut, um danach fragen zu können. Der russische Arbeiter, dem bewusst war, dass er beobachtet wurde, hielt den Blick unterwürfig gesenkt, und seine Hände waren ständig in Bewegung. Wieder und wieder die gleiche Bewegung, das gleiche Ziehen an einem Hebel, das Drehen einer Winde, das laute Krachen eines Stahlblechs, das über Rollen gezogen wurde, dann ein Schlag, und es kam das nächste.
    Die Delegation ging weiter, doch Chang blieb noch stehen. Um zu beobachten und auf den Moment zu warten, in dem der Mann aufblicken würde. Denn Chang wusste, dass er das irgendwann tun würde, dass er irgendwann dem Drang nicht würde widerstehen können. Dann würde Chang sehen, aus welchem Holz ein russischer Arbeiter geschnitzt war. Das war das Gleiche wie in China: eine bäuerliche Mentalität, die alles hinter einer Fassade der Demut und der niedergeschlagenen Augen verbarg. Sie machte Chang wütend, diese Weigerung, den Kopf zu heben und in einer Menschenmenge aus der Reihe zu fallen. Das war auch eines der Dinge, die ihm von Anfang an an Lydia gefallen hatten – dass sie gewillt war, der Welt direkt ins Auge zu blicken. Er lächelte, als dieses Bild vor seinem inneren Auge erstand, und legte klammheimlich einen Finger an die Stelle an seiner Kehle, wo ihre Lippen sie berührt hatten.
    Genau das war der Moment, in dem der Metallarbeiter beschloss, den Kopf zu heben. In Changs Augen war es ein sehr russisches Gesicht mit breiten Wangenknochen, einer langen Nase und einem Kinn, das hinter einem struppigen Bart verborgen war. Aber es waren die Augen, die ihm alles sagten, was er wissen wollte. Blassgrau und erschöpft, prägte sich ihnen das Bild des Dampfhammers ein, von morgens bis abends. Das waren nicht die Augen des zufriedenen Proletariers, den sie laut Propaganda in diesen Fabriken erwartet hatten.
    Eine Sekunde lang begegneten sich ihre Blicke, und dann spürte Chang die Hitze. Diesmal kam sie nicht von dem Hochofen, sondern von dem Arbeiter selbst. Es war die Art von Hitze, die messerspitzenscharf war. Es war Hass.
    »Kuan.«
    Sie blieb stehen und wartete auf ihn. Chang kam näher, als sie den Fabrikhof überquerten. Der Schnee hatte sich in Regen verwandelt, doch es war die Art von Regen, der sich wie lauter winzige Eispickel in die Haut bohrte. Gleich würden sie zu einer Aussprache gebracht werden, und es

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